Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Abstracts

Albrecht Koschorke (Konstanz)

Zur Funktionsweise kultureller Peripherien

Der Vortrag knüpft an verstreute und teilweise unausgeführte Überlegungen Jurij Lotmans an, um auf zwei Ebenen eine ‚Grammatik der Peripherie’ zu entwerfen. In Hinsicht auf die Peripherie von Machträumen sollen strukturelle Übereinstimmungen zwischen Kultursemiotik und Machttheorie (Michaels Doyle, Michael Mann) herausgearbeitet werden. Mit Blick auf die Ränder von Semiosphären werden Modelle eines kleinen und großen Grenzverkehrs zwischen Eigenem und Fremdem diskutiert. In beiden Fällen gilt den Kippphänomenen zwischen hegemonialer Ordnung und peripheren Gegenbewegungen besondere Aufmerksamkeit.

Michael C. Frank (Konstanz)

Sphären, Grenzen und Kontaktzonen – Jurij Lotmans räumliche Kulturtheorie aus der Perspektive des Postkolonialismus

In den Kulturwissenschaften wird der Grenze nicht erst seit dem jüngst ausgerufenen spatial turn besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Bereits Georg Simmel, Michel Foucault, Fredrik Barth und Edward Said konzipierten Kulturen – mit jeweils unterschiedlicher Akzentsetzung – als räumlich gedachte Einheiten, die über eine Abgrenzung nach Außen innere Kohäsion stiften. Obgleich auch Jurij Lotman die Grenze, bei allen sonstigen Schwerpunktverlagerungen innerhalb seines heterogenen Werks, immer wieder ins Zentrum stellte, sind die Parallelen zwischen seinen erzähltheoretischen und kultursemiotischen Arbeiten mit den oben genannten, teils zeitnah entstandenen Ansätzen bislang übersehen worden. Anhand der beiden Monographien „Die Struktur literarischer Texte“ und „The Universe of the Mind“ sowie einiger in ihrem Umfeld entstandener Aufsätze möchte mein Beitrag die Vorzüge des Lotman'schen Modells gegenüber statischen Konzepten der kulturellen Grenzziehung illustrieren.

Zum einen stellt Lotman von vornherein die Grenzüberschreitung in den Vordergrund, deren transformatives Potential er betont; zum anderen weicht in seinen späten Texten zur Semiosphäre ein strikt binäres Raummodell, das den separierenden Charakter der Grenze betont, einem solchen, das Prozesse des Transfers und der Übersetzung beleuchtet. Die Grenze erscheint nun nicht mehr als Außen- und Trennlinie, sondern als eine periphere „Kontaktzone“, ein Bereich des Dazwischen, der zugleich trennt und verbindet. So erhält die „bewegliche Figur“ mit dem Recht zur Grenzüberschreitung in ihrer „Zweisprachigkeit“ neues Gewicht.

In exemplarischen Lektüren englischer Romane aus der Zeit des Hochimperialismus soll Lotmans mit räumlichen Konzepten operierende Kulturtheorie erprobt werden, wobei vor allem der dynamische Zusammenhang zwischen Zentrum und Peripherie (als Kontaktzone zwischen zwei kulturellen Sphären) im Vordergrund stehen wird. Während so einerseits die Fruchtbarkeit der Lotman'schen Konzepte gezeigt werden kann, lassen sich andererseits Aspekte verdeutlichen, die als ergänzungswürdig erscheinen – allen voran die Machtasymmetrie zwischen Zentrum und Peripherie, wie sie in analogen postkolonialistischen Modellen hervorgehoben wird, aber auch die Rolle zeitlicher Grenzziehungen.

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Peter Selg (Tallinn) / Andreas Ventsel (Tartu)

Towards a Semiotic Model of Hegemony

The paper discusses the relationship between the theory of hegemony as elaborated by Ernesto Laclau and the semiotics of culture of Yuri Lotman. The discussion is not merely expository, but attempts to contribute to the theory of hegemony. We believe that there are several shortcomings – despite many apparent advantages – in Laclau's model and that some central insights of Lotman can be of service in overcoming them.

In our view, Laclau represents one of the most far-reaching perspectives in the poststructuralist tradition of political philosophy that tries to avoid any essentialist theorizing of society and power. Especially fruitful is his notion of the “empty signifier” as the central category for defining a hegemonic relation. But the main problem with his theory is that it is basically a social ontology that provides almost no clues on how to formulate research questions for studying power relations in concrete social formations. We believe that the problem is not merely factual, but follows partly from the very logic of his categories. In his later works, Laclau uses the psychoanalytic notion of affect in explaining the mechanisms or “forces” that make hegemonic relations possible. We believe that this development closes many doors for empirical social research and try to substitute the problem of affect in the theory of hegemony with the problem of translation between different cultural coding systems. And that is where Yuri Lotman becomes the central figure.

The ground for believing this incorporation of the two thinkers to be successful is the very apparent theoretical congeniality between them. Both belong to the Saussurean ontological terrain. The main functions that Lotman attributes to semiosphere (asymmetry, boundedness, binarity, and heterogeneity among others) play the same functional roles as do Laclau's central categories when he specifies his notion of discourse.

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Özkan Ezli (Tübingen)

Amorphe Verhandlungen. Deutsch-türkische Literatur und Filmproduktion an den Grenzen der Semiosphäre

Nach Lotman erfüllt die Grenze in einer Semiosphäre zwei Funktionen: entweder sie wirkt in kultursemiotischer Sicht identitätsstabilisierend, lässt Spezifik und Opposition gegenüber anderen Sphären erkennen und konstituiert so einen festen Kern. Oder aber „sie ist der Bereich beschleunigter Prozesse“, die aktiv von der Peripherie aus in die Kernstrukturen eindringt und diese verändert.

In den deutsch-türkischen Kulturdiskurs übersetzt, finden wir die erste Funktion im kulturpolitischen Diskurs, der verstärkt seit dem 11. September zwischen zwei Formen, nämlich der der Segregation (Parallelgesellschaft) oder der des deutschen Islam (Integration) pendelt und die Handlungsräume von Deutsch-Türken kulturalisierend interpretiert. Die zweite Grenzfunktion finden wir in der deutsch-türkischen Literatur und Filmproduktion, die als sekundäre Sprachen Problematisierungen der genannten kulturalisierenden Identitätspolitik darstellen, und diese anstelle auf eine statische monokulturelle Handlungs- auf eine amorphe Verhandlungsebene führen. Diese verweist auf eine präindividuelle Kommunikation, die vor jeder kulturalisierenden Interpretation steht und diese dadurch grundlegend in Frage stellt. Die Präsentation wird den Fokus besonders auf die zweite Funktion der Grenze in Relation zur ersten der deutsch-türkischen Semiosphäre setzen.

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Annette Werberger (Tübingen)

Die Grenzen der Semiosphäre I. „Grenzerzählungen“ in der Westukraine

Der Vortrag setzt mit einer allgemeinen Übersicht über die Relevanz von Jurij Lotmans Raumsemiotik für die Untersuchung transnationaler Räume und interkultureller Kontakte ein. Besondere Aufmerksamkeit möchte ich dabei den asymmetrischen Verhältnissen in der Semiosphäre schenken, die Lotman zufolge die Dynamik in diesem kultursemiotischen Raum bestimmen. Die Herkunft des Begriffs „Semiosphäre“ aus den Lebenswissenschaften zeigt sich hier deutlich: Lotman beschreibt die Semiosphäre als pulsierenden Mechanismus, in dem kulturelle Austauschprozesse zwischen von Undeterminiertheit und Determiniertheit, Unbestimmtheit und Bestimmtheit, Selbstbeschreibung des Kerns und Gegennarrativen aus der Peripherie, amorphen Randzonen und ideologischen Einebnungsprozessen stattfinden.

Daran schließt sich eine kurze komparatistische Fallstudie zur Literatur aus Galizien/Westukraine an, einem Gebiet das sich historisch durch eine Vielzahl an unsichtbaren und sichtbaren (religiösen, sprachlichen ethnischen etc.) Grenzen auszeichnet.

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Katharina Eisch-Angus (Regensburg)

Border, Memory, and the Clock Figures of Prague: Semiotic Demarcations on Ethnographic Paths of Research

“That maliciously twisting fate,” which turns once per hour alongside the figures of Prague’s astronomical clock in Joseph Hahn’s poem “Bohemia,” takes (and took) place at the peripheries of Bohemia, not only in the border regions but also in the interethnic zones of meeting and separation in the multilingual, central/east European cultural sphere. Political upheavals and code switching—the central breaks in contemporary European history – were experienced here since 1918 as cyclically returning events of opening, transgressing and closing of the borders. The disasters of nationalism and totalitarianism, war, expulsion, occupation, but also the transmitted practices of cultural contact and meeting left their marks on the landscape, at the same time writing themselves deeply into the memory of the border populations of the Czech Republic. Living at the boundary for them means being shut off at the margins of order and civilization as much as it means being inspired and cultivated through border-crossing exchange. However, their own border situation finds itself time and again bound to the experience of a ongoing cycle of history.

This contribution is based on ethnographic field research carried out in different Czech-German border areas since 1987. We will ask to what extent cultural-semiotic methods can analytically grasp the disparate, mostly narrative, and subject-related textual foundation that emerge from field research that is open, procedural and situationally-based. To what extent can the models of the semiosphere and semiosis structure and contextualize this apparently unordered, associative set of texts with their repetitions, overlappings, and oppositions? With the help of the cultural semiotics of Yuri Lotman, Boris Uspensky, and others, we can understand the border dynamics of a concrete cultural field of contemporary history. We can also comprehend how spatial boundaries are translated into temporal breaks, in interactions, stories, biographies, identities and collective memory—and vice-versa.

The potential of European ethnology and cultural semiotics to supplement theory and methodology will be illustrated using common research approaches that are procedural, interactive, and self-reflective as well as those that focus on border and memory, looking at the peripheries of culture, of disintegration and culture transformation.

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Andrea Hacker (Tübingen)

Lotmans Semiosphärentheorie zwischen Aufklärung und Globalisierung

Die erste Assoziation, die Juri Lotman’s Semiosphärenmodell hervorruft, ist V.I. Vernadskiis Biosphärentheorie, auf die Lotmans kulturtheoretischer Ansatz auch aufbaut. Einige von Vernadskiis wichtigsten Prinzipien finden sich wieder in Lotmans Theorie: das Prinzip des offenen Systems; der Abgrenzung; der organischen Verbundenheit des Makro- und Mikrokosmischen. Diese Affinität zum naturwissenschaftlichen Diskurs der Biogeochemie, scheint Lotmans Ansatz bereits im Namen eine von politisierten und politisierenden Einstellungen unbelastete Herangehensweise an interkulturelle, und letztlich auch globalisierende Kulturprozesse zu verleihen. Diese wissenschaftliche Unparteilichkeit wird von einigen hinterfragt. So weist z.B. Vladimir Alexandrov in seiner Kritik an Lotmans Semiosphärenmodell hauptsächlich auf die Verschriebenheit Lotmans den Idealen der deutschen Aufklärung und frühen Romantik hin. Die semiosphärische Globalität, so Alexandrov, korrespondiert mit dem Universalismus einerseits, und der semiosphärische Mikrokosmos mit dem Individualismus andererseits. Das Problem, dass sich mit dieser Kritik ergibt, liegt darin, dass Lotmans so verheißungsvoll „neutral“ (zumindest i. S. v. nicht-ideologisch) wirkende Theorie wiederum auf westlichen Vorstellungen basiert und daher ihre Anwendbarkeit auf kulturelle Globalisierungsproblematiken einschränkt.

Dieses theoretische Problem der unumgänglich scheinenden Europäischen Aufklärung beschäftigt auch Theoretiker anderer Ansätze, die ihrerseits eine Umgewichtung des dominanten, westlichen kulturhistorischen Diskurses anstreben: So weist z.B. Dipesh Chakrabarty in seinem Buch „Provincialising Europe“ ebenfalls auf die Unvermeidbarkeit aufklärerischen Gedankenguts, dem das postkoloniale Kulturerbe, wie Chakrabarty vermutet, nur schwerlich eine eigene ebenbürtige Philosophie entgegensetzen kann.

In diesem Beitrag ist folgender Fragenkomplex zu diskutieren: inwiefern schränken Alexandrov’s Bedenken die Anwendbarkeit von Lotmans Semiosphärentheorie tatsächlich ein? Kann sie dennoch mit zeitgenössischen, außer-westlichen kulturtheoretischen Ansätzen wie dem Chakrabartys in Einklang gebracht werden und zur Globalisierungsdiskussion beitragen? Kann sie u. U. ausschließlich auf den Russischen, bzw. slawischen Kulturkreis und seiner Interaktion mit dem Westen angewendet werden? Soweit die Zeit zulässt, werden diese Fragen anhand eines konkreten Falls aus der Russischen Avantgarde kurz illustriert.

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Michail Lotmann (Tartu)

Impossible Communication: The Structure of Hymn

Yuri Lotman distinguishes two different types of communication in principle which create a channel of communication for themselves. First of them is the interpersonal communication (channel of communication “I – he”; maybe more precise would be to formulate it in Martin Buber’s sense “ich – du” channel). Second is the autocommunication (channel “I – I”). According to Yuri Lotman on the individual level the interpersonal communication should be considered normal, but if we observe culture as a whole, then the intensity and frequency of autocommunication is remarkably higher than that of the intercultural communication. In the same spirit we could assume that if we treat semiosphere as a whole, then only autocommunication is possible, even on the theoretical level.

In my paper I will attempt to approach problems related to communication beyond our semiosphere. These are, first of all, the attempts of human being to communicate with gods (both with polytheistic gods and transcendent God). I will distinguish three types of communication, according to what the logical-communicative structure of a message is: a) prayer, b) psalm, c) hymn. The most paradoxical is the structure of hymn. Proceeding from the logic of speech acts it has a completely senseless message. The analysis of it has important consequences from the perspective of semiotics of culture and speech act theory.

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Edna Andrews (Duke University)

Lotman and the Cognitive Sciences. The Role of Auto-Communication in the Language of Memory

Die folgende Abhandlung beleuchtet unterschiedliche Aspekte von Yuri Lotmans Modellierungen der Semiosphäre, seine Beiträge zu einer Theorie der linguistischen Bedeutung und Kommunikation sowie ihre Relevanz für die zeitgenössischen Kognitionswissenschaften. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob Lotmans semiotischen Konstrukte mit den strukturellen bzw. den nicht strukturellen semiotischen Theorien vereinbar sind. Um diese Aspekte anzusprechen werde ich insbesondere auf Lotmans Definition der Minimaleinheiten von Diskurs und Sprechakt eingehen sowie die Weise, wie diese sich in eine umfassendere semiotische Tradition.einfügen einschließlich der Werke von R.O. Jakobson, C.S. Peirce, T. Sebeok, M. Bakhtin und L.S. Vygotsky.

Ein spezieller Aspekt dieser Arbeit ist es, Lotmans Konstrukt der Autokommunikation gegenueber Vygotskys unterschiedlichen Spracharten einzuordnen. Ein Vergleich von Lotman und Vygotskys Arbeit zeigt, dass Lotman der seine Schuld Vygotsky gegenüber zugibt, einerseits einen Mechanismus entwickelt hat, der grundlegend unterschiedlich von Vygostskys egozentrischen und internen Sprecharten ist, der aber gleichzeitig eine wichtige zusätzliche Kohärenz herstellt, die eine neue Lesart fuer Vygotskys Werk bedeutet. Durch die neue Kontextualisierung „recontextualizing“ der Erkenntnis von unterschiedlichen Arten von Sprache innerhalb des semiosphärischen Raumes, legt Lotman die Grundlagen für einen neuen Ansatz der Definition von collective memory (das soziale Gedächtnis einer Gruppe) und das Verständnis der Prinzipien, welche menschliche Wahrnehmung führen und formen.

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Urmas Sutrop (Tartu)

Language as a Modelling Communicative System

The main objective of my presentation is to show how a theory of language as a structured modelling system and its components (code, translation and history) can be developed if we take into account the ideas of Yuri Lotman and the Tartu-Moscow school as well as more recent treatments of language as a modelling system (e.g. Sebeok 1991, Sebeok and Danesi 2000).

According to Lotman, each modelling system can be viewed as language (1967). Natural languages, including Estonian, should be viewed as primary modelling systems. Languages of the culture constitute secondary modelling systems.
In his early book, “Analiz poétičeskogo teksta. Struktura stix” [Analysis of the poetic text] (1972), Lotman defines language (as common in semiotic disciplines) as “a sign communication mechanism which serves to preserve and communicate information.”

My approach relies on Lotman’s definitions of the concepts language and code in one of his later works “Kul’tura i vzryv” [Culture and explosion] (1992). He warns that equating language and code in a communication process is not as harmless as it seems, for code does not presume history: “Language – it is a code with history” (cf. Andrews 2003). In brief, the above can be summed up as the following equation: language = code + history.

My approach relies on linguistic relativism which also characterises Lotman’s approach to language. Links between Lotman and relativism have been referred to by e.g. Susan Bassnett (2002). She writes that Lotman’s view, according to which language is a modelling system -- and art and literature as secondary modelling systems have been derived from language as a primary modelling system -- is directly related to Sapir-Whorf’s hypothesis (2002: 22).
My thesis is that languages have evolved as a result of communication between different languages, which is possible only through translation from different cultures and language codes. The question I am interested in is: How has translation changed the code of a language throughout history?

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Neena Gupta-Biener (Konstanz)

Critical Reflection on the Application of Lotman’s Concept of Communication Processes in Understanding Discursive Asymmetry in Intercultural Interactions: The Case of Intercultural Communication Between Germans and Indians

When communicating between different cultures, the discourse narrative takes place outside the institutional tradition established within each culture and between levels in the same culture. There are usually no tools available for the actors that may help them in decreasing the discursive asymmetry. It is further heightened (a noise factor) in the asymmetry since no frame of reference is available. In intercultural interactions, this happens where instruments for communication cannot be used for interlevel communication.

Using examples from failures in intercultural communication between Germans and Indians on different levels, this paper critically reflects on the tradition of interpretive methodologies for understanding intercultural interactions. Further, hermeneutical traditions will be analysed as a possible solution for modelling communication as a means to create new knowledge and to share old knowledge. The paper will also try to define the semiotic space of Indian culture and discuss the role of semiotic context in shaping meanings in the realm of intercultural communication between Indians and Germans.

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Renata Makarska (Tübingen)

Übersetzen zwischen Peripherie und Zentrum (Bronisława Wajs und Mariella Mehr)

Bronisława Wajs (1910-1987), Papusza genannt, eine der ersten Roma-Autorinnen der Welt, ist durch ihre (sich selbst beigebrachten) Kenntnisse der Schrift der möglichen Integration mit der polnischen Umgebung entgegengekommen. Ihre Lieder (gila) – von ihr selbst niedergeschrieben, von Jerzy Ficowski ins Polnische übersetzt und herausgegeben (1956, 1973), sehr geschätzt auch von Julian Tuwim – haben ihr einerseits zwar Ruhm beschert, andererseits führten sie zu einer fast gänzlichen Ausschließung von ihrer genuinen Umgebung – sie wurde mit dem Vorwurf konfrontiert, die eigene Gemeinschaft und ihre (geheime) Sprache verraten zu haben. Die Folge davon war eine immer wieder zurückkehrende psychische Krankheit und lyrisches Verstummen gewesen.

Während im Papuszas Fall ein Versuch unternommen wird, die Peripherie der Gesellschaft dank kulturellen und sprachlichen Übersetzungsprozessen ins Zentrum zu rücken (die Folge davon wird ein Verstummen sein), ist Mariella Mehr (geb. 1947 in Zürich) ein Beispiel der gewaltsamen „Amputation“ der Peripherie in der Schweizer Gesellschaft. Mariella Mehr wurde als Tochter der Jenischen (auch „weiße Zigeuner“ genannt) zum Opfer des „Integrationsprojektes“, des „Hilfswerks“ Kinder der Landstraße, das in den Jahren 1920-1970 jenische Kinder von ihren Eltern zwangsweise trennte, um sie im staatlichen Auftrag „mit der Gesellschaft zu integrieren“. Mariella Mehrs erzwungener „Weg der Integration“ führte durch mehrere Kinderheime und Erziehungsanstalten, auch Psychiatriekliniken. Die Folge der „Amputation der Peripherie“ ist in ihrem Fall eine sprachliche Eruption geworden, denn Mariella Mehr versucht in mehreren Prosawerken (Steinzeit 1981, Daskind 1995, Angeklagt 2002) ihr Kindheitstrauma in einen Text zu übersetzen.

In meinem Beitrag habe ich vor, mithilfe der Begriffe der Lotmanischen Kultursemiotik, die Zusammenwirkung der Mehrheitsgesellschaft und ihrer kulturellen und sprachlichen Minderheiten (Roma und Jenische) am Beispiel von Bronisława Wajs und Mariella Mehr zu beschreiben.

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Soo-Hwan Kim (Seoul)

From “Influence” to “Dialogue”: Yuri Lotman on Intercultural Communication

One of the most crucial matters in relation to globally-changed cultural conditions is to reconsider the traditional “center – periphery” paradigm that is developed on the presupposition of cultural interchange between the West, the center, and the third worlds, the peripheries. However, contemporary cultural circumstances mainly resulting from globalization hardly lead us to draw a strict dichotomized line between the center and the peripheries. Global media networking and disseminating “global culture,” for example, make it increasingly difficult to distinguish the development of indigenous cultures from those facilitated by foreign influence. Just as the center is pluralized, so the third worlds themselves are differentiated into the center and the peripheries.

These substantially new types of cultural contact occurring on a global level accompany some important changes that cannot easily be analyzed by the traditional model because it demands a critical reexamination of the existing paradigm in order to see current cultural interactions. A traditional paradigm that divides “the native” from “the foreign” turns out to be “inadequate” or “problematic” because this one-sided perspective is not able to grasp properly the overall process of rearranging the center and the peripheries in a global world of “complexity” and “hybridity.”

Global cultural circumstances that are changing rapidly and substantively require for alternative model capable of compensating for the outdated character of the traditional model. For this reason, this presentation raises major questions such as: Is it possible to find any other model that can overcome the one-sided character of cultural interaction and ensure the reciprocity of communication? Where can we find the possibility to refashion the cultural logic of globalization as a process of compromise and active cultural interpenetration, rather than as an occupation or pollution?

In this short presentation, I will attempt to demonstrate that the mechanism of cultural interaction in Yuri Lotman’s semiotic theory—which can be summarized as progressing “from influence to dialogue”—can provide a suggestive answer to these questions. Additionally, I will examine contemporary Korean “B-boying culture” as an interesting case study of intercultural communication that is conditioned by global cultural circumstances. I hope that this attempt will be a chance to reveal how appropriate and applicable Lotman’s approach is for the current cultural situation we are facing.

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Valerij Gretchko (Japan)

Yuri Lotman’s Model of Communicative Asymmetry: Its Origins and Implications

The term communication has a central place in Lotmanian cultural semiotics. Communication is thereby regarded not as empty exchange of texts, but proves instead to be a translation in which the texts of the culture are being coded and decoded in (at least) two different types of ways. Because of the basic incompatibility of these codes, an exact translation is not possible. However, precisely this difference is of exceptional significance. New texts that develop within this process of “nontrivial translation” represent the basis for a creative development of culture.

My paper investigates the question of the genesis and formation of Yuri Lotman’s communicative model, discussing its theoretical implications for cultural research from this approach. I will show that the fundamental idea, according to which semiotic or communicative processes can appear in two basically different forms, is a red thread throughout the greater part of Lotman’s oeuvre. Although the idea still refers primarily to texts in the 1960s, Lotman later extends its range of application to human thought processes as well as to culture as a whole. The static model in which two different codes exist parallel to one other is supplemented by a dynamic aspect presupposing an ongoing reciprocal effect between them. For possible sources from which this approach developed, we could draw on both on the theoretical conceptions of the dialogicity (Vygotsky, Bachtin) as well as neurophysiological work on the asymmetry of the large brain hemispheres.

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Thomas Grob (Konstanz)

Der doppelte Lotman. Jurij Lotmans Konzeptionen kulturhistorischer Dynamik zwischen Gesetz und Zufall

Bekanntlich hat sich Ju. M. Lotman besonders in seinen letzten Jahren intensiv mit Frage von Evolution und Prozessen befasst und dabei eine deutliche Akzentverschiebung zugunsten des ‚Zufälligen‘, des Abrupten und Unvorhersagbaren vorgenommen. Der Beitrag stellt die Frage, wie die neue Sichtweise aussieht, aber auch, wie sie in Einklang zu bringen ist mit älteren oder alternativen Konzepten, die seinen historischen Forschungen – sei es biographie- oder epochenbezogen – zugrundeliegen. Diese nicht widerspruchsfreie Konstellation wird erweitert um die Frage, wie geeignet Lotmans methodischer Zugang ist, auch nichtlineare Formen historischer Dynamik und deren Pluralität zu konzeptualisieren.

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Sergej Zenkin (Moskau)

Continual Models after Lotman

In his articles “The Phenomenon of Culture” (1978) and “Asymmetry and Dialogue” (1983), and then in his book Culture and Explosion (1992), Yuri Lotman has pointed out the importance of the opposition discontinuous/continual for the typology of cultural models. That duality, which Lotman based on the functional asymmetry of the human brain, proves to be one of the essential oppositions of our thought. Its further exploration can lead to an extension of the semiotic field and to a connection between semiotics and other cultural discourses.

Three large categories of continual models may be found in common use and in modern research, specifically:

  1. the image (mostly discussed by Lotman himself under the name of iconic sign), which is perceived as a complete entity without ruptures or quantifiable articulations;
  2. the sacred, understood in a broader sense than in Lotman (and closer to the modern sociological use of the term), imagined in its relationship to fluid efficient substances (like primitive manna, or blood as an archetype of sacred substance), that circulate in the world and invest in living beings;
  3. the body, considered less as a process of acculturation and “civilization” (a point of view which seems to dominate modern human sciences) than as a genuine source of phenomenological experience, related to an evidence of body as continual totality.

A difficult question arising from critical review of these problems is: to what degree may the continual models be used for a rational, and especially scientific inquiry? Put differently, to what degree can these be translated into articulated (discontinuous) language and opposed to such models in the general configuration of culture?

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Daniele Monticelli (Tartu)

Dialogue, Periphery, Explosion. Some Political Implications

The later works of Lotman clearly mark a shift of his thought in a poststructuralist direction. Problematic topological notions such as “boundary“ or “periphery“ and problematic historiographical notions such as “explosion“ place into question the very same idea of totality, both in the form of a self-enclosed system and that of a teleological process.

My presentation will be an attempt to develop Lotman’s detotalizing intuitions into instruments for a critique of contemporary political discourse which is hegemonized, on the one hand, by the logic of globalization (“end of history”) and, on the other, by the appeal to essentialist identities (closed communities). The idea of the definite eclipse of any emancipating politics depending on the open possibilities of history and the contestation of identitarian exclusions is the immediate corollary of the discursive hegemony just mentioned. What Lotman’s semiotics enables us to think today is, on the contrary,

  1. a general mechanism of disidentification (“dialogue“ or “translation in cases of untranslatability“);
  2. the opening and possibly disruptive insistence of the removed, the excluded, the forgotten on the borders (the ”periphery“) of any given semiotic space;
  3. interruption, discontinuity and choice as generators of unpredictable and anomic newness (“explosion“, “irreversible processes“).

The political relevance of these Lotmanian concepts will be shown by means of a comparison with similar notions to be found in the works of such contemporary political thinkers as Alain Badiou, Jacques Rancière and Giorgio Agamben. The leading questions will be: can a (detotalizing) politics of emancipation be characterized from a theoretical point of view? What would be its elements today?

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Irina Wutsdorff (Tübingen)

Jurij Lotmans Kultursemiotik zwischen Russland und Europa

Den Großteil seiner Kulturtheorie hat Jurij Lotman mit Bezug auf und anhand von Beispielen aus der russischen Kulturgeschichte entwickelt, wobei auch immer wieder der Vergleich mit der westeuropäischen Entwicklung einen Angelpunkt seines Denkens bildete. Einschlägig ist hier die Gegenüberstellung von Text- und Regelkultur in den kultursemiotischen Grundlagenarbeiten der 70er Jahre. Auch die spätere Modellierung von Kultur als dynamische Semiosphäre und die Betonung der kulturellen Produktivität von Peripherie und Grenze sowie von Übersetzungsprozessen behält einen vergleichenden Blick auf Russland und Europa bei. Implizit ist dabei immer auch die Modellierung von Macht betroffen.

Vor diesem Hintergrund sollen anhand von Lotmans komparatistischen Arbeiten mehrere Frageperspektiven aufgeworfen werden: Inwiefern ist Lotmans Kultursemiotik, die mit einem weit gefassten Textbegriff operiert, selbst Teil der beschriebenen textfixierten russischen Kultur? Wie verhält sich die naturwissenschaftliche Metaphorik seiner späteren Modelle zu der in Russland traditionell weniger ausdifferenzierten Ordnung der Diskurse? Liegt möglicherweise in Lotmans begrifflichem Eklektizismus ein Schlüssel für die Anschlussfähigkeit seiner Modelle, die insbesondere ungeregelte Systeme beschreibbar macht? Auf welche Weise sind Macht bzw. die Möglichkeiten von Subversion in Lotmans Kulturmodellen verortet und welche Rolle spielt dabei der Vergleich zwischen Russland und Europa (statisches, machtzentriertes System versus dynamisches System des Code-switching)?

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Renate Lachmann (Konstanz)

Lotmans literaturwissenschaftliche Begriffe kultursemiotisch gelesen

‚Text‘ und ‚Kultur‘ gehen in Jurij Lotmans Semiotik unterschiedliche Beziehungen ein: zum einen werden zwischen Text und Kultur Analogien hergestellt, die Begriffsübertragungen (mit metaphorischen Implikationen) in beide Richtungen erlauben, zum andern wird Kultur als Ensemble von Texten bestimmt, bzw. zugespitzt: Kultur erscheint als die Summe ihrer Texte.

In beiden Fällen kann von einer textomorphen Struktur der Kultur ausgegangen werden, die mithin derselben Beschreibungsprozedur unterliegt wie der Text, ebenso wie umgekehrt auf den Text ein deskriptives, analytisches und axiologisches Vokabular übertragen werden kann, das zunächst in den Kontext kultursemiotischer Theoriebildung gehört. Die Frage ist nun, wie die wechselseitige Übertragbarkeit der Begriffe funktioniert. Etwa wenn für die Beschreibung kultureller Vorgänge Kategorien und Konzepte aufgeboten werden, die die Techniken der Selbstinterpretation und der Selbstmodellierung, mit denen sich eine Kultur stabilisiert, zur Gänze beschreiben sollen (Selbstbeschreibung, Automodell, kulturelle Metasprache oder Metatext, Kulturgrammatik, Systemhaftigkeit bzw. Nicht-Systemhaftigkeit, Geordnetheit bzw. Nicht-Geordnetheit), und wenn die Kultursemiotik, dichotomisch orientiert, von einem Mechanismus ausgeht, der eine Pendelbewegung zwischen Offenheit und Geschlossenheit, Dynamik und Stillstand bewirkt und eine binaristische Typologie postuliert, die zur Monosemie einerseits und zur Polysemie andererseits neigende Kulturen unterscheidet. Oder wenn umgekehrt die dem Text (insbesondere die dem literarischen) gewidmete Beschreibungssprache mit Begriffen wie ‚Transformation‘, ‚Umkodierung‘, ‚Reihe‘, mit Anleihen bei der Mathematik, Linguistik und in Fällen der Bestimmung des ‚Neuen‘ bei der Kybernetik operiert und einen vereinfachten Zeichenbegriff anbietet, der Ausdrucks- und Inhaltsebene meint und bei der Bestimmung von Textstruktur und Textsemantik auf Termini des Formalismus zurückgreift (z.B. der Verfahrensbegriff, aus dem der Begriff des ‚Minus-Verfahrens‘ hervorgeht).

Der Vortrag versucht ‒ um die offenen und verdeckten Wechselbeziehungen zwischen Kultur und Text vor Augen zu führen ‒, die Theoriebildung, die zur Grundlegung einer strukturalen Poetik geführt hat (in Lotmans Frühphase strukturalistischen Denkens), als Modell für diejenige der Kultursemiotik zu interpretieren.

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Jelena Grigorjeva (Tartu)

From Formula to Evidence – The Evolution of Yuri Lotman’s Semiotic Method

My presentation deals with problems in the evolution of Lotman's approach to cultural phenomenon. This is seen as a certain shift from structuralist positivistic algebraic method to a method that could be defined in Carlo Ginsburg's terms (Clues, Myths, and the Historical Method, translated by John and Anne C. Tedeschi. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1989) as an evidential paradigm.

The first method was based on the ideas of constructing artificial intelligence in the domain of cybernetics. This application of humanistic knowledge marked an attempt to transform the language of social disciplines into scientific language. The first programmatic articles in semiotics by Lotman (Statji po tipologii kultury) described its object in the most general terms with the help of algebraic formulas. Simultaneously, Lotman practiced a traditional historical approach and studied literature and culture starting from the premises of the Russian historical school (A.Veselovski, G. Gukovski, G. Makagonenko). The historical approach, which is very attentive to details, margins and deviations, provides a serious correction to the generalizing semiotic concept of culture and sign as such (algebraic abstract symbols vs. indexical idiosyncratic symptoms).

Those two opposed methods merge in Lotman's later works on semiosphere (Universe of the Mind). Reading historical material in symptoms and generalizing an outcome with the theory of asymmetric dialogical mind results in a specific configuration of understanding, according to which a cultural phenomenon is treated as a readable structure of evidences and clues (Lotman's theory of cultural memory as a generator of new cultural meanings).

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Ülle Pärli (Tartu)

Reception Aesthetics and Lotman’s Analysis of an Artistic Text

Yuri Lotman’s monographic treatments of artistic texts, published in early 1970s, are part of an era when reception aesthetics and ”reader-response“ criticism were on the rise in literary studies in the West. This presentation attempts to reveal the ideas in Y. Lotman’s semiotics of literature that bring his text-centric examinations of literature closer to basic issues in reception aesthetics such as the problem of the text’s target or addressee, the role of the reader (including the present cultural context as a reader) in shaping the text’s field of signification, re-coding, and the dialogic nature of texts. At the same time, the particulars of interpreting the relationship of text to reader in Lotman’s approach to literature are made clear by examining this relationship as only one aspect in his general conception of literary analysis (or literary culture). Such analysis is, by its nature, synthetic, bringing together various possibilities in a creative (and frequently paradoxical) fashion.

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Elize Bisanz (Lüneburg)

Symbolic Forms and Cultural Intelligence. Interdisciplinary approaches to the cultural body by Charles S.Peirce, Ernst Cassirer und Jurij Lotman

Die symbolische Eigenschaft der kulturellen Konstruktion bildet die Grundlage für eine umfassende kulturelle Analyse. Unterschiedliche Ansätze sowohl in geisteswissenschaftlichen wie auch naturwissenschaftlichen Bereichen schildern den Weg einer Annäherung. Nicht zufällig finden wir sie vor allem in der philosophischen Tradition der symbolischen Formen, aber auch in der Semiotik, Logik und Pragmatik sind tief greifende Ansätze zur Erforschung des menschlichen Verstands mittels der Analyse seiner kulturellen Kommunikations- und Interpretationsfähigkeit. In diesem Kontext wird Kultur und alles was sie beinhaltet sowohl als Bedingung wie auch als ein Produkt unserer Symbolsysteme verstanden, da Symbolsysteme das Mittel sind, um erworbene Fertigkeiten, Informationen und Gewohnheiten zugleich zu verinnerlichen und zu vermitteln.

Dabei werden drei zentrale Positionen zur Logik der symbolischen Kommunikation diskutiert: das triadische Ereignis von Charles S. Peirce, die Logik der symbolischen Formen von Ernst Cassirer und das Konzept der kulturellen Aktivität von Jurij Lotman. Anhand zentraler Kategorien wie Synchronizität, Symbolhaftigkeit und Polysemie werden darüber hinaus die dynamischen und sphärischen Eigenschaften der kulturellen Logik und die Relevanz Lotman’s interdisziplinären Ansatzes zur Explikation der kulturellen Intelligenz herausgearbeitet.

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Schamma Schahadat (Tübingen)

Kultursemiotik, Poetics of Culture: Lektüren

Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die typologische Ähnlichkeit zwischen der anglo-amerikanischen Richtung des new historicism bzw. der poetics of culture unter der Ägide von Stephen Greenblatt und der Moskau-Tartuer kultursemiotischen Schule.

Greenblatts poetics of culture hat einige Vorläufer im russischen Formalismus und in der russischen Kultursemiotik, die, wenngleich sie von der westlichen Forschung wenig zur Kenntnis genommen werden, dennoch in die gleiche Richtung zielen: die Formalisten mit ihrer Untersuchung des literaturnyj byt, des literarischen Alltags, und mit ihren Arbeiten zur biographischen und literarischen Persönlichkeit des Autors (z.B. Tomaševskij); Jurij Lotmans Untersuchungen zu einer poėtika povedenija (Poetik des Verhaltens); Lidija Ginzburgs und Irina Papernos Arbeiten zur Konstruktion der literarischen persona in der Romantik und im Realismus.

All diesen Ansätzen, von den Formalisten bis zum New Historicism, geht es um die Korrelation der Poetik einzelner Epochen mit außerliterarischen 'Reihen', die den Status einer Poetik erlangen (einer Poetik des Verhaltens). Dabei konzentrieren sich die russischen Theoretiker in stärkerem Maße als die anglo-amerikanische Diskussion auf die Gestaltung der Persönlichkeit in diesem diskursiven Feld von Ästhetik und Gesellschaft, von Poetik und Politik. Sie lenken den Blick auf die Konstruktion des eigenen Lebens, die in den unterschiedlichsten Repräsentationspraktiken zum Ausdruck kommt.

Im Anschluss an einen kurzen Vergleich der theoretischen Prämissen der poetics of culture  und der russischen Kultursemiotik sollen eine Lotman’sche Analyse einer Poetik des Verhaltens aus der russischen Romantik und eine Analyse von Greenblatt aus der englischen Renaissance gegen- und miteinander gelesen werden, um die Parallelen bzw. Unterschiede in einer Microanalyse heraus zu arbeiten.

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Marlene Heidel (Lüneburg)

Die Unvorhersagbarkeit der poetischen Bedeutung

In Lotmans letztem Buch „Kultur und Explosion“ (1992) wird deutlich, welche grundlegende Relevanz unvorhersagbare Prozesse für die kulturelle Dynamik – für das Funktionieren von Kultur überhaupt – haben. Den künstlerischen Text verstand Lotman als Idealtyp für die Realisierung unvorhersagbarer Prozesse und setzte für dessen Existenz seine Wechselbeziehung zu kulturellen Mechanismen der Stabilität bzw. des allmählichen Fortschritts voraus. In der gegenwärtigen Kulturwissenschaft stellt die genauere Beschäftigung mit der Wechselbeziehung zwischen unvorhersagbaren und stabilitätsorientierten, sukzessiven kulturellen Prozessen ein Forschungsdesiderat dar.

Der Begriff der Unvorhersagbarkeit ist kein rein kulturwissenschaftlicher, sondern eine Schnittstelle zwischen Natur- und Kulturwissenschaft. Wie Erfahrungen im Bereich der künstlichen Intelligenz zeigen, liegt das noch ungelöste Problem der technischen Rekonstruktion des Menschen nicht in der umfassenden Berechnung und Kodierung seiner Handlungs- bzw. Seh- und Sprachstrukturen, sondern in der „Rekonstruktion“ der grundlegenden menschlichen Eigenschaft, auf unvorhersagbare Situationen neu und doch angemessen zu reagieren und selbst unvorhersagbare Handlungen, Artefakte und somit auch künstlerische Texte und poetische Bedeutungen zu generieren. Gerade mit dieser menschlichen Eigenschaft ist die Fähigkeit zur Generierung modellbildender Systeme – d.h. zu Kultur – verknüpft.

Auf der Basis von „Kultur und Explosion“ setzt sich dieser Beitrag mit folgenden Fragen auseinander: Welche Funktion kommt der „Unvorhersagbarkeit der poetischen Bedeutung“ innerhalb der Semiosphäre zu? Welche Bedeutung hat diese Begrifflichkeit für die europäische Kulturwissenschaft? Welche Verbindungen können zwischen der „Unvorhersagbarkeit der poetischen Bedeutung“ und Lotmans vorherigen Arbeiten zur Sprache des künstlerischen Textes, dem naturwissenschaftlichphilosophischen Denken Ilya Prigogines sowie dem „osteuropäischen“ und „westeuropäischen“ Strang der Semiotik hergestellt werden?

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Dieter Mersch (Potsdam)

Hybride Semiosen. Juri Lotman zur Frage kultureller Kreativität

In seiner Theorie der Semiosphäre entwickelt Juri Lotman den interessanten Gedanken, dass an den Bruchstellen, dem Übergang zwischen unterschiedlichen kulturellen Räumen zunehmend fremde, amorphe und offene Codierungen entstehen, die für die Dynamik und Produktivität kultureller Semiosen verantwortlich sind. Finden sich im Zentrum relativ stabile und dominierende Systeme, finden an den Peripherie, den Grenzverläufen hybride Überschneidungen unterschiedlicher Systeme statt, entstehen Unvereinbarkeiten, zuweilen auch paradoxe Kompositionen die für die Frage der Kreativität furchtbar gemacht werden können.

Der Vortrag geht den hybriden Konstellationen, den Verwerfungen und Unbestimmtheiten als ästhetischen Verfahrensweisen nach, um von dort einige Überlegungen zu einer ‚Theorie des Neuen’ anzuschließen.