Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Einfache Gläubige und späte Konvertiten

Syrien am Ende der Antike

Von Jack Tannous

(Münze aus der Zeit der Islamischen Expansion
Solidus des Herakleios mit seinen Söhnen Konstantin III. und Heraklonas
(Münze aus der Zeit der Islamischen Expansion). Foto: Classical Numismatic Group, Inc. Einige Rechte vorbehalten

Dem Historiker Richard Bulliet zufolge glauben heute die Nachkommen der meisten Menschen, die im Jahr 600 Jesus als Sohn Gottes verehrten, dass es keinen Gott außer Gott gibt, und dass Mohammed sein Prophet ist.

Wie kam es zu diesem Wandel?

Gehen wir einige Jahrhunderte, bevor der Islam aufkam, zurück und zwar zu den Spannungen, die im römischen Kaiserreich ab dem 5. Jahrhundert n.Chr. zwischen Christen über die Inkarnation herrschten – also darüber, in welchem Verhältnis Mensch und Gott in der Person Jesu Christi stehen. Mehrere große Versammlungen, in denen kirchliche Würdenträger versuchten, ihre Differenzen beizulegen, scheiterten. Dabei hatten selbst römische Kaiser sich aktiv darum bemüht, die Zerwürfnisse zu heilen.

Als Folge entstanden zahlreiche konkurrierende Gemeinden oder Kirchen im Nahen Osten, die jeweils unterschiedliche Positionen zur Menschwerdung Gottes vertraten. Jede davon glaubte, dass alle anderen furchtbaren Irrtümern anheim gefallen waren.

Am Vorabend der islamischen Expansion im Nahen Osten gab es eine intensive Konkurrenz um die Loyalität und die Zugehörigkeit der einfachen Gläubigen.

Was stand auf dem Spiel?

Doch der damals römisch beherrschte Nahe Osten war kein Ort, der vor streitlustigen Theologen überquoll. Wie heute verstanden die meisten Menschen im spätrömischen Nahen Osten die Debatten und das, was dabei auf dem Spiel stand, nicht wirklich. Die Machthaber der Kirche, die diese Kontroversen austrugen, waren natürlich überzeugt, dass ein falsches Verständnis der Inkarnation die christlichen gottesdienstlichen Praktiken und letztlich die Erlösung der jeweiligen Person gefährden könnte. Aber nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung konnte überhaupt lesen und schreiben, Bücher waren nicht weitläufig zugängig und nur sehr wenige verfügten über ausreichend theologische Kenntnisse, um jene konkurrierenden Positionen wirklich verstehen und beurteilen zu können.

Wir stehen also vor einem Paradox: In den Jahrhunderten vor dem Aufstieg des Islam war die christliche Bevölkerung des Nahen Ostens in eigenständige und konkurrierende Gemeinden zersplittert, aufgrund von theologischen Meinungsverschiedenheiten, die die meisten Mitglieder dieser Gemeinden nicht nachvollziehen konnten.

In christlichen Quellen aus dieser spätrömischen Zeit oder auch aus früheren Epochen wird immer wieder auf die „Einfachen“ verwiesen, also gewöhnliche, normale Christen, die weder Theologen, noch Kleriker, noch Leitfiguren der Kirche waren. Wenn Letztere ihre Gegner und Rivalen kritisieren wollten, behaupteten sie oft, dass diese die Einfachen auf Abwege führten. Tatsächlich ist es immer, wenn wir uns mit einer Frage zur Geschichte des Christentums befassen, absolut wichtig, diese Einfachen im Blick zu behalten. Denn wie Tertullian, ein christlicher Autor des zweiten und dritten Jahrhunderts, einmal anmerkte, handelt es sich dabei stets um die Mehrheit der Gläubigen.

Historiker hingegen tendieren dazu, besagte kirchliche Führungsfiguren über die von ihnen verfassten Texte zu verstehen, und vergessen dabei gern, dass zuvorderst die Seelsorge ihr Leben bestimmte – sich um ihre Herde von Gläubigen zu kümmern und sie zu führen, das war ihre Aufgabe. Und diese Herde setzte sich größtenteils aus einfachen Gläubigen zusammen. Am Vorabend der islamischen Expansion im Nahen Osten gab es eine intensive Konkurrenz um die Loyalität und die Zugehörigkeit der einfachen Gläubigen.

Wie sahen die einfachen Gläubigen diese Konflikte?

Leider haben wir keine von einfachen Gläubigen geschriebenen Texte und können daher diese Frage nicht sicher beantworten. Wenn wir aber die vorhandenen schriftlichen Quellen genau studieren, finden wir viele Belege für Verhaltensweisen, die zumindest bei einigen der Theologen zu Unmut führten: So nahmen zum Beispiel manche Gläubige von Priestern anderer Gemeinden das Abendmahl entgegen und Priester kümmerten sich auch um Gläubige rivalisierender Gemeinden. Überhaupt pflegten die Menschen heilige Personen ungeachtet ihrer kirchlichen Zugehörigkeit um Hilfe zu ersuchen. Es ging recht chaotisch zu. Für die meisten Christen scheinen vor allem das Abendmahl, die Taufe, das Kreuz, die Heiligen und natürlich Jesus Christus entscheidend gewesen zu sein. Die theologischen Streitigkeiten bedeuteten ihnen nicht besonders viel. Ja gerade die Symbole, Rituale und Personen übten eine Anziehungskraft aus, die jene konfessionellen Grenzen überschritten, die ihre Anführer zu errichten versuchten. So sah die Welt aus, auf die die arabisch-muslimischen Armeen im Nahen Osten des siebten Jahrhunderts stießen.

Doch was gibt es zu diesen Muslimen zu sagen?

Zunächst einmal müssen wir uns klar machen, dass sie nicht besonders zahlreich waren. Einer Schätzung zufolge war die Zahl der Muslime, die nach der Expansion aus der arabischen Halbinsel emigrierten, nicht höher als 500.000, womöglich weit geringer. Dagegen zählte die nicht-muslimische Bevölkerung, bei der sie sich niederließen, wohl zwischen 20 und 30 Millionen Menschen von Nordafrika bis Zentralasien.

Zweitens waren viele dieser Muslime erst in den letzten Jahren des Lebens des Propheten zum Islam konvertiert, erst, als sich abzeichnete, dass er im westlichen Arabien eine hegemoniale Stellung erreicht hatte. Als Mohammed im Jahr 622 von Mekka nach Medina zog, hatte er höchstens etwa hundert Anhänger. Als er nach Mekka zurückkehrte und es im Jahr 630 eroberte, verfügte er über eine Armee von zehntausend Mann.

Die meisten der späten Konvertiten waren gruppenweise zum Islam übergetreten, als ganze Volksstämme und sogar Städte Mohammed Loyalität schworen. Sie hatten kein klares Verständnis davon, was Islam genau bedeutete oder beinhaltete. Es ist anzunehmen, dass ihre islamische Religiosität nicht sehr tief ging. Und nach dem Tod des Propheten rebellierten viele der Volksstämme, die ihm Gefolgschaft geschworen hatten, und weigerten sich, weiter Steuerabgaben zu zahlen. Zur gleichen Zeit traten eine Reihe anderer Propheten an die Öffentlichkeit und gewannen einige der rebellierenden Volksstämme als ihre Anhänger. Diese Stämme wurden in einer Reihe von Auseinandersetzungen, den Ridda- oder Apostasiekriegen, zurück in den Islam gezwungen. Daran anschließend begannen die muslimischen Armeen ihre Eroberungen.

Wenn wir uns also mit den frühen Interaktionen von Christen und Muslimen im Nahen Osten befassen, sollten wir nicht nur an Dispute religiöser Vordenker über das Wesen der Dreifaltigkeit, die göttliche Natur von Jesus Christus oder das Prophetentum Mohammeds denken. Wir müssen uns auch klarmachen, dass Islam im siebten oder achten Jahrhundert etwas anderes bedeutete als im neunten oder zehnten, als er seine klassische Ausprägung fand, und erst recht etwas anderes, als damit heute gemeint ist.

Die Gründe, aus denen Menschen konvertierten, waren vielfältig, aber häufig scheinen nicht-religiöse Faktoren dazu motiviert zu haben.

Was geschah, als christliche einfache Gläubige auf neu konvertierte Muslime trafen?

Der Islam entwickelte sich also in einer Situation, in der sich eine sehr kleine Zahl von Muslimen, von denen die meisten weder besonders fromm noch sehr bewandert waren, in einem Meer nicht-muslimischer Menschen wiederfand, die meisten davon einfache Christen. Der Islam nahm seinen Ausgangspunkt als Minderheitenreligion: Der Nahe Osten war im Mittelalter die meiste Zeit über ein Ort, an dem eine muslimische Minderheit eine große nicht-muslimische Mehrheit beherrschte. Man nimmt beispielsweise an, dass die ägyptische Bevölkerung erst im vierzehnten Jahrhundert mehrheitlich muslimisch wurde – etwa siebenhundert Jahre nach der arabischen Expansion.

Zwangsbekehrungen zum Islam kamen zu bestimmten Zeiten in großer Zahl vor. Typisch waren sie aber nicht. Die meisten Bekehrungen geschahen allmählich über eine lange Zeit hinweg. Die Gründe, aus denen Menschen konvertierten, waren vielfältig, aber häufig scheinen nicht-religiöse Faktoren dazu motiviert zu haben: Zum Islam zu konvertieren hieß, nicht länger eine besondere Steuer zahlen zu müssen, die Juden und Christen von muslimischen Regierungen abverlangt wurde. In einer Welt, in der die meisten Menschen sich am Existenzminimum durchkämpften, scheint diese Dschizya genannte Steuer über Jahre hinweg bei vielen Bekehrungen treibende Kraft gewesen zu sein.

Aber was genau bedeuteten diese Bekehrungen?

Wenn einfache Christen zum Islam übertraten, konnten sie viele Elemente des Christentums weiter beibehalten, die ihnen vor der Konversion am wichtigsten gewesen waren. Das hieß, dass viele Muslime im Nahen Osten bis hin zur osmanischen Zeit bestimmte religiöse Verhaltensweisen ihrer christlichen Vorfahren weiterführten. Einfache Christen hatten Jesus, das Abendmahl, die Taufe, die Heiligen und das Kreuz ins Zentrum ihres Religionsverständnisses gestellt. All dies war für viele muslimische Konvertiten und sogar noch ihre Nachkommen weiterhin von besonderer Bedeutung.

Die späteren Phasen des Mittelalters im Nahen Osten sind besser dokumentiert als die Frühphase. Und es gibt bessere Belege für die religiösen Praktiken von Muslimen etwa im Balkan oder in Anatolien, wo die vormals christlichen Bevölkerungen – wie im Nahen Osten – entweder ganz oder teilweise zum Islam konvertiert waren. Man kann bei ihnen viele Überreste dieser christlichen Vergangenheit finden: etwa Muslime, die Brot mit Kreuzen verzierten, Kreuze als Tätowierung verwendeten, Phylakterien mit den Worten „Holz des Kreuzes“ trugen, Kreuze auf den Minaretten von Moscheen anbrachten und den Namen Jesus oder die ersten Zeilen des Johannes-Evangeliums in Schutzamuletten bei sich trugen, um Unglück abzuwenden. Zudem ehrten Muslime bestimmte Heilige der Christen, brachten ihre Kinder in christliche Kirchen, ließen sie taufen, hielten an den Schutzheiligen ihrer Familie aus christlichen Zeiten fest, feierten die Feste christlicher Heiliger, suchten Ostereier, besuchten christliche heilige Quellen und vieles mehr.

Generell ist die früheste Phase des Islam weit weniger ausführlich dokumentiert als spätere Zeiten, doch lassen sich viele dieser Phänomene, bei denen Muslime zentralen christlichen Ritualen und Symbolen mit besonderer Hochachtung und Verehrung begegnen, auch in dieser Zeit finden. Aus dem zwölften Jahrhundert haben wir sogar eine besondere Taufordnung, die eine Gemeinde zum Taufen der Kinder von Muslimen verwendete. Bei diesen Muslimen handelt es sich ziemlich sicher um die Nachkommen von zum Islam konvertierten Christen.

Schon von der Zeit direkt nach der Expansion an scheinen sich muslimische Anführer Sorgen gemacht zu haben, dass die wenigen Muslime in der Menge sie umgebender Nicht-Muslime untergehen könnten. Daher drängten sie die Muslime, sich in ihrem Verhalten von Juden und Christen abzusetzen. Dieser Versuch, sich gewissermaßen ex negativo zu definieren, hinterließ seine Spuren auch im Islam. Die zahlreichen präislamischen Praktiken, die in den Islam eingegangen sind und denen nachträglich eine muslimische Herkunft aufgesetzt wurde, zeugen von den gemischten Erfolgen jener Anführer dabei, externe Einflüsse abzuwehren.

Zusammenfassend sollten wir uns das Mittelalter im Nahen Osten nicht nur als die Geschichte der herrschenden muslimischen Minderheit vorstellen. Wir können diese Minderheit – und ebenso viele der wichtigsten Merkmale des Islams selbst – nur wirklich verstehen, wenn wir daran denken, dass diese Minderheitenreligion in einem Meer von Andersgläubigen existierte, die langsam konvertierten, oft aus nicht-religiösen Gründen. Wenn wir uns zu stark auf die doktrinären Unterschiede zwischen Christen und Muslimen konzentrieren, lassen wir den entscheidenden Punkt außer Acht: Der allmähliche Wechsel religiöser Zugehörigkeit der einfachen Gläubigen vom Christentum zum Islam machte den Nahen Osten erst zu der mehrheitlich muslimischen Region, die er heute ist. Und eben dieser allmähliche Zugehörigkeitswechsel – mit all dem zugehörigen religiösen Gepäck – formte das Verständnis des Islams mit, das die ortsansässigen Muslime im Mittelalter hatten.

Übersetzung aus dem Englischen von Eva Engels.

Jack Tannous ist Assistant Professor am History Department der Princeton University. Als Fellow am Kulturwissenschaftlichen Kolleg Konstanz (Juli 2015 bis 2016) arbeitet er an einem Buch mit dem Titel „Simple Belief: Religion and Society in Syria at the End of Antiquity“.

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Dieser Beitrag erschien zuerst im Clustermagazin „Themen Thesen Texte“ 5/2016.

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Inhalt

Nur ein bettelnder Schüler ist ein guter Schüler
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Exodus und Gewalt
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„Das Zicklein, das die Trommel zerstört …“
Sprichwörter als Botschaften kulturellen Widerstands
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Warum man leichter Katalane wird als Südtiroler
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Ordnung und Konflikt
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