Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Ein Möglichkeitsraum

Der Kulturwissenschaftler und Migrationsforscher Dr. Özkan Ezli erläutert, wie Integration abläuft, wie das Integrationsgesetz mit den 1980er-Jahren zusammenhängt – und welchen Einfluss die AfD auf das Integrationsgesetz hatte.

Herr Ezli, wie schätzen Sie das Integrationsgesetz ein?

Zitat

Arbeit und Sprache sind die zwei Träger dieses Gesetzes. Der Gesetzgeber versucht, die schutzsuchenden Personen so schnell wie möglich in Arbeit zu bekommen. Es tauchen sehr zentrale Aspekte auf, aber im Grunde werden hier nur einige Rahmenbedingungen ausformuliert. Um wirklich von Integration sprechen zu können, fehlt der gesellschaftliche Aspekt in diesem Gesetz. Es gibt darin keine ideelle Ausbuchstabierung von Integration.

Welche Dimensionen hat Integration?

Das Integrationsgesetz setzt mit den Schwerpunkten Sprache und Arbeit explizit und klassisch auf die Aspekte einer kognitiven und strukturellen Integration. Zu kognitiver Integration gehört beispielsweise der Spracherwerb oder die Aneignung von neuem Wissen. Hierfür stehen die Integrationskurse. Eng verbunden ist dieser Aspekt mit struktureller Integration, also dass man auch einen Job bekommt, beruflich aufsteigt. Das geht Hand in Hand mit der Zunahme von Interaktionen, mit gesellschaftlichem Austausch, Kontaktmöglichkeiten, Vereinen etc. Aber mit diesen weiterführenden sozialen und kulturellen Aspekten hat das vorliegende Integrationsgesetz gar nichts mehr zu tun.

Eine weitere Dimension, die aus transnationaler oder transkultureller Forschungsperspektive mitunter kritisch gesehen wird, ist schließlich der Aspekt der Identifikation: Dass man sich mit einer größeren Gemeinschaft identifiziert, dass man irgendwann sagt: Ich bin deutscher Staatsbürger. Der Integrationsnachweis ist hier die Staatsbürgerschaft.

Das Gesetz greift zu kurz?

Diese Prozesse von Sprache, Arbeit, Sozialem und Identitätspolitischem hängen von Anfang an zusammen. Wenn man von Integration spricht, muss man eigentlich von diesem Gesamtpaket sprechen. Dieses Gesamtpaket ist im Integrationsgesetz nicht vorhanden, es ist nur ein Teilpaket.

Welche Aspekte vermissen Sie im Integrationsgesetz?

Was in dem Gesetz fehlt, ist eine Projektion: Wohin führt das und warum machen wir das? Es geht in diesem Gesetz immer nur um die ersten fünf Jahre. Nur ist Integration etwas anderes: Integration ist Langzeitperspektive. Es muss gezeigt werden: Diese Gesellschaft ist ein Möglichkeitsraum, der mitgestaltet werden kann.

Welche Elemente fehlen konkret?

Was hinzukommen sollte, ist ein Teilhabe- und Partizipationsgesetz, das beispielsweise in unterschiedlichen Gewichtungen in den Bundesländern Berlin, Nordrhein-Westfalen und in Baden-Württemberg in den letzten vier, fünf Jahren bereits verabschiedet wurde. Dort steht deutlich die Frage im Zentrum, wie es mit politischer Partizipation aussieht. Können sich Migranten und Flüchtlinge in die kommunale Politik einbringen, dürfen sie kommunal wählen? Außerdem sollten Menschen mit Migrationshintergrund auch in Gremien sitzen, zum Beispiel im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Damit in diese Beiratsarbeit auch das Wissen hineinkommt: Wie verlief die bisherige bundesrepublikanische Migrationsgeschichte?

Ein weiterer Punkt ist eine interkulturelle Öffnung im öffentlichen Dienst – ethnische Vielfalt in öffentlichen Einrichtungen. Das wäre ein Signal: Nicht-Deutsche können aufsteigen und haben eine Repräsentanz. Und sie können bei Entscheidungen mitwirken und mitbestimmen. Das hätte eine Projektionskraft für viele, besonders auch für Neuankommende: Wenn ich mich anstrenge, kann ich so etwas auch schaffen. Oder wenn nicht ich – dann meine Kinder.

Kritiker werfen dem gegenwärtigen Integrationsgesetz vor, es „spalte die Gesellschaft in Migranten und Deutsche“.

Diese Kritik finde ich überzogen. Die Kritiker haben das Integrationsgesetz damit verglichen, es sei ein „Zurück in die 1980er-Jahre“. Das stimmt nur teilweise. Sicherlich, das Gesetz spielt den Staat als Akteur wieder ganz groß in den Vordergrund – das kann man aber nur bedingt mit der Ausländerpolitik Kohlscher Prägung der 1980er-Jahre vergleichen. Für mich überwiegt da vielmehr die Differenz zu den 1980ern. Damals ging es primär um Gastarbeiter und Ausländer – heute geht es um Flüchtlinge. Da geht es politisch um unterschiedliche Erzählungen.

Inwiefern?

Debatten um Integration waren zur Zeit der Gastarbeiter immer von der Frage bestimmt: Was bringen uns eigentlich diejenigen, die kommen? Man musste es irgendwie legitimieren und die wirtschaftliche Ebene war stets die Begründung. Das ist eine ganz andere Konstellation als heute. Heute steht der humanistische Aspekt sehr viel stärker im Vordergrund. Von daher sehe ich eine deutliche Differenz.

Wie schlug sich diese wirtschaftlich geprägte Denkart in der Asyldebatte jener Zeit aus?

In der Entstehung des Asylkompromisses von 1993 ging man in dieser Dekade davon aus, dass die Asylsuchenden wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren würden. Dies dokumentiert beispielsweise das Asylrecht von 1993, denn danach durften Asylsuchende für bis zu fünf Jahre keinen Zeitarbeitsjob annehmen. Weil sie nicht arbeiten durften, wurden sie als „Schmarotzer“ betrachtet und als „Wirtschaftsasylanten“ bezeichnet. Ende der 1980er-Jahre und in den 1990er-Jahren stieg in diesem Zusammenhang auch der Rechtsradikalismus an. Es gab Angriffe auf viele Asylheime: Rostock, Solingen.

Das heutige Integrationsgesetz kommuniziert mit dieser Zeit. Was aus diesem Gesetz herauskommt, ist die unterschwellige Legitimation: Wer hier bleiben darf, der ist fleißig – der arbeitet, setzt sich ein, leistet etwas. Man kann den Flüchtlingen keine Faulheit vorwerfen. Das ist der Anker. Es ist ein Gesetz, das gegen diese Vorwürfe arbeitet – und damit auch gegen die Rhetorik der AfD.

Welchen Einfluss hatte die AfD auf das Integrationsgesetz?

Man merkt dem Gesetz an, dass die AfD indirekt drinsteckt: In den Kurzzeitigkeiten, in den Begrenzungen auf die fünf Jahre. Wenn das Gesetz letztes Jahr im September verabschiedet worden wäre, hätte es einen ganz anderen Drall bekommen als nach der Silvesternacht in Köln, als nach dem Wahlerfolg der AfD. Dadurch hat es seinen fordernden Aspekt bekommen, diese neoliberale Diktion, die auch zum Titel „Fördern und Fordern“ passt.

Das Integrationsgesetz ist von einer Koalition beschlossen worden, die ein bisschen auch die Orientierung über ihre Wähler verloren hat. Um den rechtskonservativen oder rechtslastigen Teil der Bevölkerung zurückzuholen, ist das Gesetz so gesteuert, dass es implizit sagt: Faule haben hier nichts zu suchen, nur die Fleißigen.

Im Integrationsgesetz spiegelt sich also ein gesellschaftshistorischer Prozess, eine Auseinandersetzung mit der Migrationsdebatte der vergangenen 50 Jahre.

Man merkt, dass die Gesellschaft in neue Selbstdefinitionen kommt. Das ist eigentlich ein positiver Zustand und etwas, was Migration immer wieder hervorbringt: Dass Gesellschaft in Bewegung kommt. Kultur ist Prozess. Integration ist nicht die Wiederherstellung einer verlorenen Einheit, sondern sie braucht etwas Zukünftiges, etwas Prozessuales.

Downloads