Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Eine Feuerwehrmaßnahme

Integrationsgesetz oder gar „Einwanderungsgesetz 1.0“? Prof. Dr. Wolfgang Seibel erläutert im Interview, was das Integrationsgesetz von einem Einwanderungsgesetz unterscheidet.

Seit Jahren führt die deutsche Politik eine Debatte über ein Einwanderungsgesetz, nun wurde ein Integrationsgesetz geschaffen. In welchem Verhältnis steht dieses Integrationsgesetz zu einem Einwanderungsgesetz?

Ein Einwanderungsgesetz wäre ein Gesetz, in dem ganz grundsätzlich – unabhängig von der aktuellen Flüchtlingsdiskussion – die Voraussetzungen definiert würden, unter denen Menschen aus dem Ausland in die Bundesrepublik Deutschland einreisen können – mit dem Ziel, sich hier dauerhaft niederzulassen.

Das jetzige Integrationsgesetz kennzeichnet dagegen, dass es aus der Not geboren ist. Es ist nicht ein Gesetz, das auf eine strategische Einwanderungspolitik ausgerichtet wäre, sondern es resultiert aus der enormen Belastung für die öffentlichen Behörden durch die dramatische Zunahme der Zuwanderung in den vergangenen zwei Jahren. Es ist eine Art Feuerwehrmaßnahme. Sicher ein Schritt in die richtige Richtung, aber man darf sich keine Illusionen machen: Zu einer nachhaltigen Integration wird das Gesetz nur einen relativ bescheidenen Beitrag leisten.

Was bietet uns das Gesetz stattdessen?

Dieses Integrationsgesetz ist eigentlich eine sozialpolitische Maßnahme. Es hat eher den Charakter eines systematisierten Leistungsgesetzes. Vieles im Integrationsgesetz wird über das Asylbewerberleistungsgesetz geregelt. Auf der einen Seite wurden Voraussetzungen für Fördermaßnahmen systematisiert, auf der anderen Seite sind sie verschärft worden, was jetzt etwas euphemistisch „fördern und fordern“ genannt wird.

Worauf fokussiert sich das Integrationsgesetz in seinen Maßnahmen?

Die Maßnahmen beschränken sich im Wesentlichen – das wird auch sehr betont in der Einleitung des Gesetzes – auf den Erwerb der deutschen Sprache und auf den Arbeitsmarkt. Das ist zweifellos elementar und eine notwendige Maßnahme, aber natürlich nicht im Entferntesten eine hinreichende Bedingung für Integration.

Was fehlt?

Ausgangspunkt eines Integrationsgesetzes muss die Frage sein: Was sind die wesentlichen Mechanismen, über die Integration abläuft? Zu diesen zentralen Punkten sagt diese gesetzliche Maßnahme zu wenig. Und das kennzeichnet die Situation und charakterisiert die Tendenz des gesamten Integrationsgesetzes. Es konzentriert sich auf die beiden – tragischerweise – einzigen in Deutschland bestehenden gesetzlichen Grundlagen für ein dauerhaftes Bleiberecht: Das sind Artikel 16a des Grundgesetzes, also der Asylartikel, und die Genfer Flüchtlingskonvention. Das sind alles gesetzliche Konstruktionen, die für einen langfristigen, nachhaltigen Umgang mit den Zuwanderungsproblemen gar nicht gedacht waren und auch nach wie vor nicht geeignet sind.

Inwiefern ist Artikel 16a nicht auf die aktuelle Situation ausgelegt?

Artikel 16a ist ein Grundgesetzartikel, von dem man 1949 gedacht hat, dass es immer mal wieder vereinzelt Individuen geben wird, die als politisch Verfolgte zu uns kommen. In Eingedenk der nationalsozialistischen Vergangenheit, die damals gerade einmal vier Jahre zurücklag, wurde ein glasklarer Artikel ins Grundgesetz geschrieben, dass die Bundesrepublik ein Land ist, in dem verfolgte Menschen Aufnahme finden. Damals hat keiner daran gedacht, dass dies einmal mehr als eine Million Menschen im Jahr betreffen könnte. Auch nach der Einwanderungswelle in den 1990er Jahren wurden nicht die notwendigen Konsequenzen gezogen – auch deshalb nicht, weil die Zuwanderung nach dem Ende der jugoslawischen Zerfallskriege wieder stark abnahm.

Welche notwendigen Konsequenzen sind ausgeblieben?

Es fehlen gesetzliche Regelungen der Zuwanderung nach festgelegten Kriterien, die notwendigerweise nicht nur an der Notlage von Menschen ansetzen können und dürfen, sondern auch an dem, was hier in Deutschland wirtschaftlich und gesellschaftlich erforderlich und verkraftbar ist. Mit diesem dreifachen Kriterium – dem humanitären, dem utilitaristischen und dem gesellschaftspolitischen – arbeiten im Grund genommen alle traditionellen Einwanderungsländer wie die USA, Australien oder Kanada, und alle haben ihre Schwierigkeiten, hier zu einer angemessenen Balance zu kommen.

In Deutschland aber wurde diese Abwägungsaufgabe noch nicht einmal in Angriff genommen. Zuwanderung findet trotzdem statt, nur eben unkontrolliert, und wir können gar nicht das herausholen, was für uns nützlich ist und was im Umkehrschluss den Menschen, die zu uns kommen, auch gerecht würde.

Welche politischen Prozesse führten zu dieser Entwicklung?

Wir haben in Deutschland, was die Zuwanderungspolitik betrifft, seit Jahrzehnten eine Negativkoalition von Konservativen und Linken. Die Konservativen – konkret also der konservative Flügel der Unionsparteien – wollen kein Einwanderungsgesetz mit der famosen Begründung, dass ein solches Gesetz die Zuwanderung noch verstärken würde. Die Linken dagegen – also Teile von SPD, Grünen und Linkspartei – wollen nach Möglichkeit gar keine Begrenzung der Zuwanderung und aus diesem Grund auch kein Einwanderungsgesetz, das Zuwanderungskriterien und damit auch Begrenzungen der Zuwanderung enthalten müsste. Die Entwicklung der Zuwanderung in den vergangenen zwei Jahre sollte eigentlich die Realitätsferne beider Positionen hinreichend verdeutlicht haben.

Sigmar Gabriel nannte das Integrationsgesetz ein „Einwanderungsgesetz 1.0“, einen ersten Schritt zu einem Einwanderungsgesetz.

Wenn man die Aussage des derzeitigen SPD-Vorsitzenden wohlwollend interpretieren wollte, dann als politische Absichtserklärung. Tatsache bleibt, dass es ein Einwanderungsgesetz in der laufenden Legislaturperiode des Bundestages nicht mehr geben wird.

Kritiker bezeichnen das Gesetz als Integrationshindernis.

Das ist nun ebenfalls recht abwegig. Es ist kein „Integrationsverhinderungsgesetz“, sondern schon ein Schritt in die richtige Richtung, nur eben ein bescheidener Schritt. Man sollte dieses sogenannte Integrationsgesetz nicht als ein Quasi-Einwanderungsgesetz verkaufen, das ist es nun einmal nicht. Aber es enthält wenigstens Anreize für die hier in Deutschland Angekommenen, die Hilfen zur Integration auch tatsächlich in Anspruch zu nehmen. Und das ist im Prinzip gut so.

Sollte sich Deutschland an den klassischen Einwanderungsländern orientieren?

Deutschland muss als eines der attraktivsten Einwanderungsländer im Dreiklang von humanitären, wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Kriterien eine stabile Regelung der Zuwanderung treffen. Das liegt im Interesse derjenigen, die zu uns kommen, und in unserem Eigeninteresse.

Deutschland hat auf mehreren Gebieten Schwierigkeiten, die Konsequenzen zu ziehen aus der Globalisierung, von der es aufgrund seiner besonders ausgeprägten weltwirtschaftlichen Verflechtung unter allen demokratischen Industriestaaten am meisten profitiert. Die hierzulande ebenfalls besonders ausgeprägten Proteste gegen die Freihandelsabkommen CETA und TTIP sind ein Beispiel hierfür, aber eben auch die Unfähigkeit, einen politischen Konsens zu organisieren für den Umgang mit der Zuwanderung hunderttausender Menschen, die in Deutschland Schutz suchen oder auch schlicht eine vielversprechende Zukunft für sich und ihre Kinder.

Wenn Deutschland nicht nur seine Produkte, sondern auch seine Produktstandards verbreiten will, braucht es dazu Freihandelsabkommen wie CETA und TTIP, und wenn Deutschland im Zuge der Globalisierung ein Einwanderungsland geworden ist, braucht es ein Einwanderungsgesetz, das diesen Namen auch verdient, weil es die damit verbundenen Funktionen erfüllt.

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