Ein Politisierungsschritt des Theaters
Frau Vogel, das Thema Flucht ist auf den Bühnen Europas längst angekommen. Welche Rolle spielen die Theater in der Flüchtlingssituation?
In Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise entdeckt und beschreibt das Theater seine eigene soziale Funktion neu. Es definiert sich als eine politische Institution. Seit einigen Jahren lässt sich beobachten, dass die Bühnen extrem sensibel auf die Flüchtlingsproblematik reagieren – thematisch, aber auch in neuen Veranstaltungsformen, neuen theatralen Formen, neuen Gattungen. Flüchtlinge werden nicht nur zum Thema auf der Bühne, sondern die Bühnen und Garderoben werden zunehmend selbst als Asylraum zur Verfügung gestellt. Die Institution Theater überdenkt und erweitert ihre eigenen Mittel und Möglichkeiten.
Welche Konsequenzen hat es, wenn das Theater selbst zum Asylraum wird?
Die Institution Theater etabliert sich als multifunktionale Einheit, die flächendeckend das Gesamtproblem der Flüchtlinge adressiert. Das heißt in der Folge: Man kann die Institution des Theaters nicht mehr isoliert sehen von anderen Institutionen. Es steht gewissermaßen in Beziehung zu anderen Einrichtungen, Behörden, Lagern, Unterbringungsorten, die mit Flüchtlingen befasst sind.
Es versucht als Theater, die Vorgänge an anderen Institutionen mit zu steuern und neue Impulse einzubringen – weil das Theater in die Öffentlichkeit geht, ein Publikum adressiert. Weil es anders als Behörden, die ihre Entscheidungen in geschlossenen Behördenräumen fällen, Entscheidungskriterien öffentlich anspricht und sichtbar macht.
Auf welche historischen Vorbilder bezieht sich das Theater dabei?
Der Einsatzpunkt ist die antike Tragödie. Sie stellte eine Form zur Verfügung, die es ermöglichte, dass Fliehende auf einer Bühne ankommen, innehalten und ihre Geschichte vortragen. Ein Zwischenort, ein transitorischer Aufenthalt, der es aber den Flüchtlingen möglich macht, zur Sprache zu kommen.
Auf der anderen Seite ist klar zu sagen, dass die antike Tragödie kein für heute gültiges Modell zur Verfügung stellt. Heutige Theaterformen arbeiten sich vielleicht daran ab, spiegeln sich darin, entwickeln daraus die eigene Formsprache. Die aktuelle Situation erfordert aber ganz andere theatrale Formen und Lösungen – und eine ganz andere Sprecherposition.
Warum eine andere Sprecherposition?
Das Problem ist: Für wen sprechen die Schauspieler? Wie verhält sich die Rede der Schauspieler zur Rede der Flüchtlinge? Sprechen die Flüchtlinge ihre eigene Sprache oder ist ihre Sprache immer schon durch die Sprache der Behörden überformt, durch unsere Sprache, durch falsche Empathie, durch falsche Wahrnehmungen? Wie kann man für sie sprechen, ohne sie dabei zu verraten?
Welche Lösungsansätze bietet die Bühne für dieses Dilemma? Wie wird das Thema Flucht inszeniert?
Diese Debatte ist durch die Neubearbeitung von Aischylos‘ „Die Schutzflehenden“ durch Elfriede Jelinek neu bestimmt und angetrieben worden. Ein Stück, an dem sich neue Diskurse entzündet haben an der Frage: Wie führe ich so etwas auf? Wie kann das Schweigen der Flüchtlinge auf die Bühne gebracht werden? Wie stelle ich es dar, dass viele sprechen, dass die Stimme des Einzelnen aber in Gefahr ist, unterzugehen?
Wir sehen das bei Elfriede Jelinek, die in ihren Stücken eben keine Solisten, keine Protagonisten mehr produziert. Die Frage „Wer spricht?“ oder „Wie sprechen Flüchtige?“ kann in Jelineks Stücken immer nur in Zusammenhang einer Pluralisierung, einer Vervielfachung von Sprechern gelöst werden. Deswegen sind die Form des chorischen Sprechens und damit auch der Chor der antiken Tragödie in besonderer Weise interessant.
Welche weiteren Formen der Inszenierung lassen sich beobachten?
Im Moment sehen wir auf der Bühne sehr stark ein Abrücken von vordergründiger Empathie-Erzeugung. Das klassische Mitleid zu erzeugen ist nicht mehr der Weg, den Theater gehen. Es ist klar, dass die Rede der Flüchtlinge auf der Bühne immer eine gebrochene Rede ist und dass wir in einen Prozess der Selbstbeobachtung eintreten müssen, wenn wir diesen Flüchtlingen zuhören.
Wir dürfen uns hier nicht als einfache Theater-Konsumenten begreifen. Es geht natürlich einmal mehr um die Frage: Wie können wir aus einer Konsumentenhaltung – auch als Leser von Zeitungen oder als Theaterbesucher – heraustreten? Wie können spezifische Formen von politischer Interaktion entstehen, die es möglich machen, die Passivität eines Zuschauers oder bloßen Zeitungslesers zu verlassen? Es ist klar, dass hier nicht alle Wege zum Ziel führen.
Im Moment ist es problematisch, dass sich praktisch jedes Theater eingeladen fühlt, einen Beitrag zu leisten, hier sind nicht alle Mittel produktiv. Fatal ist es beispielsweise, wenn versucht wird, Flüchtlingserfahrungen in Zuschauererlebnisse zu verwandeln.
Sind diese Prozesse als eine Selbst-Modernisierung des Theaters zu bewerten?
Das ist eine gute Frage. Ich würde vielleicht eher von einem weiteren Politisierungsschritt des Postdramatischen Theaters reden. Es handelt sich um eine permanente Auflösung der klassischen dramatischen Anordnung und um eine Öffnung des Mediums Theater in alle gesellschaftlichen Richtungen, nun aber in einer bestimmten politischen Krisenlage. Das ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozess, in dem aber das Theater seine Interventionsmöglichkeiten neu erprobt.
Gibt es Stücke, die neu entdeckt wurden?
Vor allem antike Tragödien. Das Thema Flucht ist ein Gesichtspunkt, unter dem antike Tragödien ganz neu gelesen werden können. Es führte zu einem Boom der „Hiketiden“, „Die Schutzflehenden“ von Aischylos. Aber auch andere Tragödien werden jetzt neu gelesen, zum Beispiel die „Orestie“. Sophokles „Antigone“ wurde im Nahen Osten zu einem Referenzstück, verbunden mit Projekten in Flüchtlingslagern.
„Die Troerinnen“ von Euripides sind ein sehr starker Anziehungspunkt – ein Stück, das sehr attraktiv geworden ist, weil es vor allen Dingen auch um die weibliche Problematik geht: Was bedeutet Flucht oder Verbannung für Frauen?
Wie ist diese Neuorientierung der Theater im internationalen Vergleich zu sehen?
Das, was jetzt in Deutschland und in Europa auf den Bühnen passiert, ist im Grunde an anderen Orten der Welt bereits geschehen und hat vielerorts zu einer Neubestimmung der Position der Theater geführt.
Zum Beispiel in Australien. Australien hat eine sehr viel längere Vorgeschichte mit „boatpeople“. Durch die Insellage Australiens ist die Auseinandersetzung mit dem Flüchtlingsstrom schon sehr viel früher provoziert worden. Es gibt dort starke Flüchtlingsprojekte am Theater, die Anfang der 2000er-Jahre zu einer hochkomplexen, hochreflektierten Diskussion zur Bedeutung und Aufgabe des Theaters geführt haben. Wir können jetzt auf diese Diskurse und diese theatralen Formen zurückgreifen, wenn wir unsere eigene Debatte führen.
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