Was dem einen der Ackerbau, ist dem anderen die Kirche
Wie es kommt, dass sich in Europa drei ganz unterschiedliche Arten des Sozialstaats herausgebildet haben
von Jürgen Kaube
Der schwedische Soziologe Gösta Esping-Andersen hat 1990 den Klassiker der Theorie des Sozialstaates schlechthin geschrieben. Sein Buch „Three Worlds of Welfare Capitalism“ führte die Unterscheidung zwischen einem nordisch-sozialdemokratischen, einem kontinentaleuropäisch-konservativen und dem angelsächsisch-liberalen Wohlfahrtsstaatsmodell ein. Steuerfinanziert oder beitragsfinanziert, großzügig oder sparsam, staats-, verbands- oder marktfreundlich - das waren die sozialpolitischen Merkmale, die seiner Unterscheidung zugrundelagen. Sie liegt seitdem so gut wie jeder vergleichenden Analyse von Wohlfahrtsstaaten zugrunde.
Esping-Andersen selbst erklärte die Tatsache, dass es drei ganz unterscheidliche Arten von Umverteilung gibt, durch unterschiedliche „politische Klassenkoalitionen“. Die Mittelschicht habe in verschiedenen Ländern jeweils ein unterschiedliches Interesse an sozialstaatlicher Umverteilung gezeigt, in Skandinavien beispielsweise ein großes. In Großbritannien hingegen gelang die Koalition mit den Sozialisten nicht, die Mittelschicht setzte nicht auf den Staat, weshalb Einkommenssicherung dort nur den untersten Schichten durch ihn zuteil wird, während der Rest sie über den Markt (Versicherungen, Betriebsrenten, Immobilien) erlangen muss. Auf dem Kontinent wiederum waren bei der Konstruktion des Sozialstaats konservative Interessen im Spiel, hierzulande beispielsweise solche von Bismarck bis zu den Kirchen und den frühen Christdemokraten.
Diese Beschreibung ließ allerdings die Frage offen, weshalb denn die europäischen Mittelschichten so unterschiedliche Wege einschlugen. Der Konstanzer Politikwissenschaftler Philip Manow hat jetzt einen interessanten Versuch unternommen, das zu beantworten. Er setzt, wie schon seine Kollegen Torben Iversen (Harvard) und David Soskice (Oxford), bei den unterschiedlichen europäischen Wahlsystemen an. Iversen und Soskice hatten unter der idealisierenden Annahme, ein Gemeinwesen sei durch drei Schichten geprägt (oben, Mitte, unten), folgendes stark vereinfachte Szenario vorgeschlagen: Bei Mehrheitswahl tendiert das Parteiensystem zur Ausbildung zweier starker Parteien, einer Mitte-links-Partei, die von der Unterschicht, und einer Mitte-rechts-Partei, die von der Oberschicht präferiert wird. Der Links-rechts-Konflikt dominiert in solchen Ländern alle anderen. Die Mittelschicht aber schlägt sich auf die Seite rechts der Mitte, weil sie andernfalls zu hohe Steuern fürchten muss, ohne wie die Arbeiterschicht in den vollen Genuss des durch sie finanzierten Sozialstaats zu kommen.
Herrscht jedoch Verhältniswahl, bilden sich zumeist mehrere Parteien aus. Damit steigt die Chance für die Mittelschicht zu Koalitionen, die eine progressive Besteuerung und Transfers durchsetzen, die auch ihr zugute kommen. Tatsächlich ist es empirisch gut bestätigt, dass Verhältniswahlsysteme linke Parteien, in „bürgerliche“ Koalitionen (rot-gelb, rot-grün, rot-schwarz) eingebunden, deutlich häufiger an die Regierung bringen. Mit anderen Worten: Die Mittelschicht stimmt nur links, wenn aus Sozialisten Sozialdemokraten werden.
Neben den Unterschieden im schieren Umfang der Umverteilungstätigkeit des Staates, die so erklärt werden mag, hatte Esping-Andersen aber mit seiner Typologie vielmehr noch die unterschiedlichen Formen sozialstaatlicher Politik beschreiben wollen. Die stark am Modell der Familie mit nicht berufstätiger Frau orientierte deutsche Sozialpolitik beispielsweise setzt sich vom skandinavischen Modell nicht durch die Höhe, sondern durch die Richtung der Umverteilung ab. Großzügig umverteilt wird sowohl im nordischen wie im konservativ-kontinentalen Modell.
Hier nun ergänzt Philip Manow die Überlegungen seiner angelsächsischen Kollegen. In Skandinavien und auf dem Kontinent habe es diesseits von Links-rechts-Konflikten historisch jeweils andere gesellschaftliche Spaltungslinien gegeben. Im Norden war es die zwischen Stadt und Land, Agrarsektor und Industrie, auf dem Kontinent hingegen die zwischen Staat und Kirche. Überall gab es darum in Skandinavien im zwanzigsten Jahrhundert starke Bauernparteien, die wiederum in Deutschland oder Frankreich weitgehend unbekannt sind. Jeweils etwa 25, 21, 14 und neun Prozent erlangten über die gesamte Nachkriegsgeschichte hinweg die Agrarier bei Wahlen in Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden. Nur die Schweiz kennt eine solche Repräsentation ländlicher Interessen noch. Aber in der Schweiz koalierten bis vor kurzem ja ohnehin fast alle mit fast allen.
Was dem Norden die Bauern, waren dem Kontinent die Katholiken - so könnte man Manows Argument zusammenfassen. Deutschland, die Niederlande, Italien, Frankreich, Belgien und Österreich sind historisch vom Konflikt zwischen katholischer Kirche und den liberalen Staatseliten geprägt. Nur in Frankreich hat das nicht zur Gründung dauerhaft einflussreicher christlicher Parteien geführt, große Teile der politischen Katholiken rieben sich dort in antidemokratischen Einstellungen auf. Und in Spanien und Portugal war die Gründung katholischer Parteien überflüssig, weil die Diktaturen ihr Geschäft übernahmen.
Der durchschnittliche Stimmanteil der christdemokratischen Parteien in den kontinentaleuropäischen Nachkriegsdemokratien liegt bei mehr als dreißig Prozent, der sozialdemokratische bei knapp 29. Die durchschnittliche Dauer ihrer Regierungsbeteiligung von 1945 bis 1999 beträgt 43,5 Jahre gegenüber 34,3 Jahren bei den Sozialdemokraten. In Skandinavien kommen die Christdemokraten gerade einmal auf sechseinhalb Regierungsjahre im halben Jahrhundert, die Agrarparteien hingegen auf gut achtzehn.
Aufgrund dieser Befunde, so Manow, lässt sich erklären, welche Art von Mittelschicht-Partei jeweils in Koalition mit Sozialdemokraten den Ausbau der europäischen Sozialstaatsmodelle betrieben hat. Im Norden regierte gewissermaßen schon immer Rot-Grün, auf dem Kontinent schon immer Rot-Schwarz. Im Norden war die dominante Koalition sozioökonomisch bestimmt, auf dem Kontinent hingegen spaltete sich das Parteiensystem nicht primär entlang wirtschaftlicher Interessengegensätze. Sowohl die Agrarparteien des Nordens wie die kontinentalen Christdemokraten stehen dabei weiter links als die Liberalen in ihren eigenen Ländern und als die Konservativen in Großbritannien. Manow spricht von quasi „natürlichen“ Koalitionspartnern der Sozialdemokraten.
Torben Iversen und David Soskice: Distribution and Redistribution. The Shadow of the Nineteenth Century, zum Aufsatz
Philip Manow: Wahlregeln, Klassenkoalitionen und Wohlfahrtsstaatsregime, in: Zeitschrift für Soziologie Jg. 36, Dezember 2007, zum Abstract.
Während sich im Norden die Bauernparteien gegen einkommensabhängige Sozialversicherungen wehrten, weil ihre Klientel oft kein kontinuierliches Einkommen hatte, sahen die Christdemokraten in der beitragsfinanzierten Versicherungskonstruktion des Sozialstaats eine Bremse für zu weit getriebene Ansprüche der Linken. Sie selber drangen vor allem auf die Subventionierung von konfessionellen Krankenhäusern, Kindergärten und Altenheimen, was, so Manow, zum Teil erklärt, weshalb der Staat selber sich beim Angebot sozialer Dienstleistungen stärker zurückhält als in Skandinavien. Dort wiederum erhofften sich die Agrarier von der Steuerfinanzierung allgemeiner Wohlfahrt einen Wechsel von der Grund- zur Konsumsteuer als wichtigstem Einnahmehebel des Staates.
Legt man dieses Bild zugrunde, dann reicht es nicht aus, verschiedene Arten des Kapitalismus (rheinischer, angelsächsischer, skandinavischer) auszumachen, um den Wohlfahrtsstaat zu charakterisieren. Es sind vielmehr politische und vorpolitische Interessengegensätze samt der entsprechenden Koalitionen sowie Wahlsysteme, die so unterschiedliche Typen des Vorsorgestaats hervorgebracht haben.
Prof. Dr. Philip Manow, Professor für Verwaltungswissenschaft an der Universität Konstanz, forscht im Exzellenzcluster zu „Religiöse Spaltungslinien und der Klassenkompromiss in westlichen Demokratien“.
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