Universität KonstanzExzellenzcluster: Kulturelle Grundlagen von Integration

Flüchtlingsfiguren in der deutschen Literatur

Eine narratologische und politische Herausforderung für den Diskurs über die Menschenrechte

Dr. Charlton Payne

Abstract

Das Projekt beschäftigt sich mit Versuchen der Erzählung von Flüchtlingsgeschichten in der deutschen Literatur und analysiert, inwiefern das Phänomen des „Flüchtlings“ die Definition von Menschenrechten im deutschsprachigen Kontext von der Französischen Revolution bis in die Gegenwart beeinflusst.

Das Recht auf Asyl, wie es in der „Déclaration des Droits de l’ Homme et du Citoyen“ von 1789 festgelegt wurde, verbindet den umfassenden Schutz internationaler Menschenrechte mit der Voraussetzung, dass Staatsbürgerschaft Menschen mit derselben nationalen Herkunft innerhalb eines Nationalstaats zukommt. Massenhaft vertriebene Bevölkerungsströme lassen das beunruhigende Phänomen der „Staatenlosigkeit“ offensichtlich werden, das der Flüchtling verkörpert. Die Figur des Flüchtlings macht deutlich, dass Integration auf der Ebene universalgültig gedachter Menschenrechte die Integration auf Grundlage einer nationalstaatlichen Gemeinschaft voraussetzt. Gleichzeitig bedroht der Zerfall von Nationalstaaten diesen kosmopolitischen Garant der Menschenrechte. Der Flüchtling fungiert auf diese Weise als entscheidende Grenzfigur, an der grundlegende Kategorien nationaler und internationaler Gemeinschaft überhaupt erst definierbar werden.

Als Verkörperungen von Staatenlosigkeit stellen Flüchtlinge nicht allein eine Herausforderung an die Grundsätze der Menschenrechte dar, sondern bedrohen die Wahrnehmung des Individuums als Fundament des politischen Lebens. Die bloße Tatsache, dass Humanität als durch eine Staatenfamilie konstituiert definiert wurde, unterminiert die Rolle des Individuums. Als nicht mehr zu einem Nationalstaat gehörig, werden staatenlose Individuen nicht mehr durch Menschenrechte geschützt. Versuche, dieses Defizit innerhalb des internationalen Rechtssystems zu beheben, haben in eine Definition der Menschenrechte als Ausnahmezustand gemündet, um diejenigen zu schützen, die nicht länger als Bürger eines souveränen Staates anerkannt werden können. Flüchtlinge haben somit die Grenzposition inne, an der die Bedeutung der Menschenrechte zur Artikulation gelangt. Die fundamentale Verlegenheit im Kern der historischen Definition der Menschenrechte, die durch das Phänomen der Flüchtlinge offenbar wird, ist nicht, dass sie ihrer Rechte enthoben sind, sondern dass sie nicht mehr zu einer Gemeinschaft gehören, die ihnen diese Rechte garantieren oder verweigern könnte. Anhand der Flüchtlinge stellen sich die Grenzen der Menschenrechte heraus, insofern diese von allen spezifischen Beziehungen entbunden sind und somit die Fürsprecher der Menschenrechte mit einem „Wesen“ konfrontieren, das nur noch abstrakt als „Mensch“ zu begreifen ist.

Hannah Arendts alarmierende Diagnose des o.g. Paradoxons, das Flüchtlinge dem Menschenrechtsdiskurs stellen, bietet den theoretischen Anknüpfungspunkt des Projekts in Ansehung der Analyse dieser „Erzählversuche“ innerhalb der deutschen Literaturgeschichte und der Theorie, die der prekären Erzählung der Flüchtlingsgeschichten zu Grunde liegt. Ich behaupte, dass im politischen Diskurs ähnliche Probleme für die Artikulation und Anwendung von Menschenrechten bestehen, wie es in literarischen Versuchen, Flüchtlingsfiguren im Modus einer narrativen Fiktion darzustellen, der Fall ist, insofern es um ihre grundsätzliche Repräsentierbarkeit geht. Dies wird anhand des Epos Hermann und Dorothea nachvollziehbar, in dem rheinländische Flüchtlinge, die sich vor der französischen Revolution in Sicherheit bringen wollen, als eine anonyme „Menge“ beschrieben werden – Figuren, die nicht in distinkten Bildern oder Stimmen verkörpert werden, sondern die als amorphe Ballung von Lärm auftreten. Das narratologische Problem, mit dem sich Goethes Erzählung beschäftigt, besteht in der Fragestellung, wie die Geschichte der Flüchtlinge zu erzählen sei, um dabei gleichzeitig dem Charakter der Protagonistin Dorothea eine herausgehobene Stimme zu verleihen: Das bedeutet, dass das Ziel der Erzählung darin besteht, Dorothea ihren persönlichen Charakter wieder einzuschreiben – innerhalb spezifischer historischer Bezugspunkte. Das Paradox, das dieser Repräsentationsstrategie unterliegt, ist, dass Dorothea sich als komplex artikulierter individueller Charakter nur im Gegenpol zu einer anonymen Menge (von Flüchtlingen) herausbilden bzw. hervorheben kann. In der narrativen Fiktion tauchen Flüchtlinge sowohl als thematische als auch als formale Problematik auf, und mein Ziel ist es, zu analysieren, inwiefern diese Verschränkung auf metatheoretischem Niveau im Medium der literarischen Form reflektiert wird. Der Verlust der regionalen, kontextuellen und persönlichen Bindungen der Flüchtlinge schlägt sich in der narrativen Form der Flüchtlingserzählungen nieder. Diese versuchen gleichzeitig, die Flüchtlinge in eine Gemeinschaft wieder-einzuschreiben, indem sie narrative Techniken erproben, die fähig sind, deren Geschichte zu erzählen.

Die Studie ist vor allem eine Untersuchung der Dialektik zwischen literarischer Form und Rechtsdiskurs, da Flüchtlinge eine große Anzahl von Problemen für die Repräsentation von Menschlichkeit, so wie sie sowohl in politischen als auch literarischen Erzählungen konstituiert wird, stellen. Eine wesentliche Aufgabe besteht darin, die narrativen Strukturen zu untersuchen, welche den Figurationen von Flüchtlingen unterliegen – anhand von paradigmatischen Texten Goethes, Stifters, Arendts, Werfels, Treichels und Grass’ sowie eines filmischen Beispiels: Die Flucht. Diese Narrative werden dann im Dialog mit den Wandlungen des politischen und des Rechtsdiskurses betrachtet, welche den Flüchtlingsdiskurs und die Diskussion um Menschenrechte umgeben.