Wie kommunikative Grenzsituationen bewältigen?
Interprofessionelles Seminar „Arzt trifft Polizist: Von der Kunst, schlechte Nachrichten zu überbringen“
Beide Berufsgruppen arbeiten in diesem emotionalen Hochspannungsfeld, ohne dass ihre Ausbildung dies ausreichend berücksichtigen würde. Im Rahmen eines Pilotprojekts fand am 25. und 26. März in Berlin ein neuartiges Fortbildungsseminar für Ärzte und Polizisten statt: „Arzt trifft Polizist: Von der Kunst, schlechte Nachrichten zu überbringen“. Das Seminar brachte beide Berufsgruppen an einen Tisch, um voneinander zu lernen und nach gemeinsamen Strategien zu suchen, um diese herausfordernde Aufgabe zu bewältigen.
Ein Gespräch mit Prof. Dr. Kirsten Mahlke, Professorin für Kulturtheorie und kulturwissenschaftliche Methoden im Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“ der Universität Konstanz, die den Kurs als Beobachterin besuchte, und Prof. Dr. med. Jalid Sehouli, Direktor der Klinik für Gynäkologie an der Berliner Charité, der das Seminarkonzept gemeinsam mit einem interprofessionellen Team aus der Charité und der Berliner Polizei initiiert hat.
Was haben so unterschiedliche Berufsgruppen wie Ärzt*innen und Polizist*innen einander mitzuteilen?
Mahlke: Wenn sich Ärzte und Polizisten gelegentlich im Arbeitsalltag begegnen, dann meist in sehr einschneidenden Situationen: am Unfallort oder in der Gerichtsmedizin. Zwar trifft man sich dort, aber die beiden Berufsgruppen wissen letztlich wenig über die Arbeitsroutinen der anderen. Hier setzt das interprofessionelle Weiterbildungsseminar „Arzt trifft Polizist. Von der Kunst, schlechte Nachrichten zu überbringen“ an. Weil beide Gruppen mit Menschen zu tun haben, die eine schlechte Nachricht gerade in eine extreme Krisensituationen gestürzt hat, finde ich es eine großartige Idee, zusammen darüber zu sprechen. Ärzteschaft wie Polizei kann so über den Tellerrand der eigenen Disziplin blicken, die Menschen hinter den ‚Arbeitsuniformen’ kennen lernen und nicht zuletzt sich klar werden, dass sie mit solch einem schwierigen Thema wie Todesnachrichten nicht alleine dastehen.
Wie kam es zu der Idee?
Sehouli: Als ich für mein Buch „Von der Kunst, schlechte Nachrichten gut zu überbringen“ recherchierte und nach relevanten Bereichen außerhalb der Medizin suchte, traf ich in einem Zug nach Leipzig einen Polizisten, der mir von seinen Schwierigkeiten im Umgang mit Todesnachrichten erzählte. Schnell bemerkten wir, dass dieses Thema sowohl im Medizinstudium als auch in der Polizeiausbildung zu wenig berücksichtigt wird und es auch nach geeigneten Strukturen für den Berufsalltag fehlt. Nach dieser Begegnung schrieb ich einen Brief an die Berliner Polizeipräsidentin, die mich zu einem Gespräch einlud, was letztlich zum Anlass für dieses Fortbildungsseminar wurde.
Mahlke: Die Idee liegt eigentlich auf der Hand: Ärzte und Polizisten stehen am Scheideweg menschlichen Lebens. Ihre Verantwortung für die Sicherheit und den weiteren Verlauf dieser Schicksale ist enorm. Vor Prof. Jalid Sehouli und seinen Mitstreitern hat sich aber, soweit ich weiß, niemand an die Umsetzung eines Praxis-Seminars mit diesen beiden Berufsgruppen gewagt.
Was war besonders an dem Seminarkonzept?
Mahlke: Das Seminarkonzept enthielt Gruppenarbeiten, gemeinsame Diskussionen und vor allem Rollenspiele, die vier Szenen simulierten: die Überbringung der Nachricht an eine junge Mutter, dass der Krebs zurückgekommen ist, gestreut hat und nicht mehr zu heilen ist; die Benachrichtigung eines Elternpaares vom Unfalltod ihres 20-jährigen Sohnes; die Nachricht an eine schwangere Frau und ihren Partner, dass ihr zehn Monate alter Säugling bei der Großmutter den plötzlichen Kindstod erlitten hat und zuletzt das Gespräch mit frisch gebackenen Eltern über den nahenden Tod ihres sechs Tage alten Neugeborenen.
Ein hervorragend spielendes Schauspielerpaar übernahm die Rolle der Adressaten, während echte Polizisten und Ärzte die Überbringung simulierten. Hier blieben sie in ihrer angestammten Rolle. Das heißt: Jemand von der Polizei überbrachte jeweils die Nachricht vom Unfall- und Säuglingstod, die Ärzte übernahmen das Gespräch mit Patientin und Mutter. Alle Gespräche wurden als höchst realistisch empfunden, weshalb auch die Schwierigkeiten in dieser kommunikativen Grenzsituation sehr deutlich wurden.
Gab es keine Berührungsängste zwischen den Berufsgruppen?
Mahlke: Von Anfang an herrschte in diesem Seminar eine familiäre und vertrauensvolle Atmosphäre, obwohl die Leute sich nicht vorher kannten. Polizei und Ärzteschaft standen auf allen Ebenen in einem ausgewogenen, nicht-hierarchischen Verhältnis zueinander: Das Leitungsteam bestand aus zwei Ärzten und zwei Polizisten, die viel Erfahrung im Kommunikationstraining haben. Tagungsorte waren an einem Tag die Charité und am anderen die Polizeiakademie in Spandau. Man lernte also nicht nur die Menschen hinter den Uniformen bzw. Kitteln kennen, sondern auch ihr Umfeld, ihre Kantine, ihre Art miteinander umzugehen.
Die Arbeitsgruppen waren ebenfalls paritätisch zusammengesetzt. Das führte auf ganz organische Art zu einem gemeinsamen Arbeiten an den Fragen „Was sind schlechte Nachrichten?“, „Welche Unterschiede gibt es?“ und „Was sind Gemeinsamkeiten beim Überbringen der Botschaft?“. Erstaunlicherweise fiel es offenbar leicht, Gemeinsamkeiten wahrzunehmen: die Angst vor der ungewissen Reaktion des Gegenübers, das Unbehagen, nichts mehr tun zu können, die Unsicherheit, als Überbringer das Richtige zu sagen und zu tun.
Was fanden Sie besonders bemerkenswert an dem Zusammentreffen?
Sehouli: Mich hat von Anfang an die Haltung bei der Polizei beeindruckt, wie sie ein derartiges Experiment in der Fort- und Weiterbildung mit uns Ärzten einging. Die Vorbereitung war sehr intensiv und stets auf Augenhöhe, die Trainerinnen und Trainer waren alle sehr erfahren und freuten sich, gemeinsam dieses einzigartige Konzept zu erarbeiten. Meiner Meinung nach haben beide Berufsgruppen viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Beide stehen für wichtige Werte in der Gesellschaft und genießen hohes Ansehen. Auch die große gegenseitige Wertschätzung in unseren Dialogen fand ich beeindruckend.
Wir waren alle gespannt, wie das Experiment gelingen würde, und ob der Enthusiasmus, der zwischen den Trainerinnen, Trainern und Simulationsrollen herrschte, auch auf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer überspringen würde. Schon nach wenigen Minuten war ziemlich offensichtlich, dass das Experiment aufgehen würde.
Mahlke: Interessant wurde es natürlich, wo die jeweils andere Berufsgruppe Unterschiede erkennen konnte. Ein Aha-Effekt war beispielsweise die Hemmung der Ärzte, die Worte „Tod“ und „Sterben“ auszusprechen, obwohl sie wie ein Elefant im Raum standen. Von polizeilicher Seite wurde hier umgekehrt vorgeführt, wie man innerhalb kürzester Zeit das Wort Tod als Hauptbotschaft übermitteln kann. Umgekehrt wurde allen deutlich, dass es im Arzt-Patienten-Gespräch um Beziehungsarbeit geht: Es gibt immer eine Fortsetzung des Gesprächs, in dem dann weitere Schritte besprochen werden können. Die Polizei dagegen sieht die Angehörigen von Verstorbenen nur einmal.
Welche Erkenntnisse lassen sich aus dem Seminar ziehen?
Sehouli: Als wichtigen Impuls für die Medizin habe ich beispielsweise aus dem Seminar mitgenommen, dass Kommissare in der Regel zu zweit in Gespräche gehen, in dem den Angehörigen eine Todesnachricht überbracht wird. In der Medizin ist das eher unüblich. Meist führen Ärzte bei der Übermittlung von schlechten Nachrichten eher alleine das Gespräch mit den Betroffenen. Dabei wissen wir aus der Medizin, dass die Anwesenheit von Angehörigen beim Gespräch Betroffenen häufig hilft. Auch die Überbringer der schlechten Nachricht kann es unterstützen, als Team in ein derartiges Gespräch zu gehen. Die Rollen sollten aber klar definiert sein, also wer wann was sagt. Hier gibt es für beide Berufsgruppen wahrscheinlich noch Verbesserungspotential in der Vorbereitung und in der Abstimmung unter- und miteinander.
Meiner Meinung nach sollten wir berufsgruppen- und sektorenübergreifende Konzepte viel mehr als bisher in Weiterbildungen integrieren. Das neue Seminar ‚Arzt trifft Polizist’ stellt, finde ich, eine großartige Ergänzung dar, die auch für Rettungssanitäter, Seelsorger, Feuerwehrleute oder auch Journalisten interessant wäre.
Mahlke: Das Seminar und das Format des interprofessionellen Lernens haben gezeigt, wie hilfreich es ist, sich durch die Sicht auf eine andere professionelle Umgangsweise mit der Krisenkommunikation im eigenen Ansatz ‚befremden’ zu lassen. Nur so können letztlich die eigene Haltung, Denken und Praxis als nicht zwingend begriffen werden. Warum nicht als Arzt auch mal zu zweit gehen? Warum nicht dafür sorgen, dass Supervision nach schwierigen Begegnungen eingerichtet wird? Und bei der Polizei: warum nicht die eigene Arbeit bei Angehörigen auch als Beziehungsarbeit verstehen?
Wenn man professionell immer unter sich bleibt, werden die eigenen Routinen gar nicht sichtbar. Im Seminar konnte man sehr gut beobachten, wie hier eine Reflexionsarbeit begonnen hat, die hoffentlich nicht direkt im Arbeitsalltag versandet. Nicht zuletzt wird es sicherlich dabei helfen, dass die beiden Berufsgruppen auch an den Schnittstellen im Arbeitsalltag besser kooperieren. Denn das funktioniert natürlich nur, wenn sie wissen, was die anderen tun und warum sie so „ticken“. Und schließlich kommt das Arbeiten an der Kommunikation denen zugute, die Adressaten solcher schlechten Nachrichten sind. Das ist eine gesellschaftliche Verantwortung.
Was ist der wissenschaftliche Hintergrund?
Mahlke: Wir haben von Seiten der Uni Konstanz im ERC-Projekt „Todesnachrichten verantwortungsvoll überbringen“ seit 2016 empirische und kulturwissenschaftliche Untersuchungen zum Thema gemacht und in einem Blended Learning-Kurs für Polizeibeamte didaktisch aufbereitet. Wie werden Todesnachrichten übermittelt? Was hat das für Auswirkungen auf die Angehörigen und auf die Polizei? Wo werden Defizite wahrgenommen? All dies geschah auf der Basis einer langen interdisziplinären Forschungsphase über „Narrative des Terrors und Verschwindens“, die – verkürzt gesagt – die Extremfälle in Sachen Todesnachrichten enthielten: nämlich die absolute Vorenthaltung von Information, die Nicht-Übermittlung von Todesart, Todesort und Verbleib der Leichen. Die Folgen dieser Art von psychologischer Folter durch Nicht- oder Desinformation bilden den Hintergrund des Projekts hierzulande als Worst-case-Szenario. Was aber interessant dabei ist: gleich, ob methodisch oder aus Nachlässigkeit, die Folgen von Ungewissheit im Zusammenhang von unnatürlichen Todesfällen für die Angehörigen, sind hier wie dort recht ähnlich. Aktuell planen Professor Sehouli und ich eine Umfrage bei Ärzten, Patienten und Pflegepersonal zum Umgang mit schlechten Nachrichten.
Sehouli: So unglaublich es scheint, die Kommunikation ist und bleibt die wichtigste Arznei in der Medizin. Gleichzeitig ernüchtert es, dass nur wenige wissenschaftliche Studien hierzu existieren. Das muss sich ändern, sonst wird sich der notwendige Perspektivwechsel in der Medizin aber auch in der Gesellschaft nicht verwirklichen lassen.
Das Interview führte Claudia Marion Voigtmann.
Prof. Dr. Kirsten Mahlke ist Professorin für Kulturtheorie und kulturwissenschaftliche Methoden im Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“ der Universität Konstanz. Sie konzipierte den vor kurzem fertiggestellten Blended-Learning Kurs (eine elektronische Lernanwendung) für Polizist*innen „Todesnachrichten verantwortungsvoll überbringen“.
Prof. Dr. med. Jalid Sehouli ist Direktor der Klinik für Gynäkologie mit Zentrum für onkologische Chirurgie Charité Campus Virchow-Klinikum und leitet das dortige Gynäkologische Tumorzentrum und Europäische Kompetenzzentrum für Eierstockkrebs (EKZE). 2018 veröffentlichte er das Buch „Von der Kunst, schlechte Nachrichten gut zu überbringen“ (Köselverlag).