Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Die Dynamik des Verdachts

So manches Verbrechen bleibt unbekannt, weshalb immer eine gewisse Unklarheit über das Ausmaß von Kriminalität in einer Gesellschaft herrscht. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts verwenden wir den Begriff Dunkelziffer für ein Phänomen, das jedoch viel früher schon Wellen schlug. Ein Interview mit der Historikerin Sophie Ledebur über ungesichertes Wissen und historische Interventionen.

Dr. Sophie Ledebur
Dr. Sophie Ledebur forschte im akademischen Jahr 2017/18 am Kulturwissenschaftlichen Kolleg.

Was verstehen Sie unter Dunkelziffer?

In der Statistik bezeichnet man mit Dunkelziffer die Differenz zwischen dem realen Vorkommen eines bestimmten Geschehens und dessen statistischer Erfassbarkeit. Die Dunkelziffer entzieht sich einem allgemeinen Wissen und ist zumeist gefahrenbesetzt. So weiß man, dass es Gefährder gibt, aber wie viele, also das absolute Ausmaß der terroristischen Bedrohung, ist unbekannt. Diese Kluft zwischen Wissen und Nichtwissen löst in der Regel unmittelbare Interventionsbereitschaft aus.

Wenn auch die Höhe der Dunkelziffer per se unbekannt ist, handelt es sich um kein absolutes Nichtwissen. Vielmehr gehen Wissen und Nichtwissen ein ganz besonderes – und historisch zu untersuchendes – Verhältnis ein. Auf der Seite des Wissens steht meist die Erfahrung von Experten. Es paart sich mit einem ungesicherten Wissen, einer diffusen Ahnung, einem von Spekulationen, Ängsten und Gefahren angetriebenen Nichtwissen.

Was fasziniert Sie an der Dunkelziffer?

Die statistische Definition als Differenz zwischen real und registriert greift meines Erachtens zu kurz. Mich fasziniert, wie die Dunkelziffer in Stellung gebracht wird. Meist wird sie von Experten ins Spiel gebracht, die aus der Praxis sprechen und sich auf ihr Erfahrungswissen berufen. Eine Dunkelziffer braucht also eine Sprecher-Macht, und sie braucht eine Zuhörerschaft. Diese Rede von der Dunkelziffer muss irgendwie auf Widerhall treffen, um gewissermaßen zu funktionieren.

Mein Forschungsprojekt „Wissen im Entzug“ bezieht sich auf eine Figur des Nichtwissens – die Dunkelziffer – und die daran geknüpften Forderungen und konkreten Maßnahmen: Was vermag man mit der Rede von der Dunkelziffer anzuschieben? Welche Ressourcen werden mobilisiert, welche Ängste angesprochen? Es geht natürlich auch darum, wie das medial verarbeitet wird. Wie wird die Dunkelziffer strategisch eingesetzt, vielleicht gar missbraucht? Die Rede von einer Dunkelziffer ist irgendwie nicht abzulösen von einem emotionalen Raum, meist einem angst- und gefahrenbesetzten Raum. Dabei interessiert mich nicht die Realität von den Gefahren, sondern die mit diesem Verdacht in Gang gesetzte Dynamik.

Welchen Zugang finden Sie als Historikerin zu dem Thema?

Ich orientiere mich an den neueren Ansätzen der surveillance studies, die Überwachung in ihrer Doppelrolle aus Kontrolle und Fürsorge verstehen. Die Überwachung dient eben nicht nur repressiven Zwecken, sondern umfasst auch die Sorgfaltspflicht des Staates. Hätten wir einen perfekt durchorganisierten Staat, basierend auf einem allgemein akzeptierten Gemeinwohl, einer allwissenden Polizei, einer Bevölkerung, die alle Straftaten anzeigte, dann gäbe es keine Dunkelziffer. Im Kern schreibe ich, um das kurz auf den Punkt zu bringen, eine Geschichte der Verwaltung unter dem Vorzeichen der Gefahr.

Wie lässt sich die Dunkelziffer im Archiv finden?

Unmittelbar greifbar wird die Geschichte dieses Nichtwissens zumeist über Maßnahmen der Prävention. Mit meiner Studie will ich das Phänomen dieses ungesicherten Wissens sowohl für die Kriminologie als auch vergleichend für das Gesundheitswesen untersuchen. Dafür habe ich Fallstudien an der Schnittstelle von Verwaltung, Polizei, Gesundheitspolitik, Kriminalwissenschaft und Armen- und Wohlfahrtswesen ausgewählt. Konkret geht es um die Erfassung der geheimen Prostitution in Berlin und die Erfassung von psychischer Devianz in Preußen, die sich bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Das dritte Fallbeispiel ist die Kriminalstatistik und die Frage, inwiefern sie von der Problematik des unentdeckten Verbrechens angetrieben ist.

Was ich hier suche, sind sozusagen medizinal-polizeilich-administrative Maßnahmen, die einerseits auf eine Verdichtung des Informationsnetzes zielen, indem Daten registriert und verschaltet werden. Andererseits interessieren mich Verfahren und Strategien der Informationsbeschaffung, wo von vornherein klar ist, dass sie die gesuchten verborgenen Winkel der Gesellschaft niemals zur Gänze sichtbar machen können.

Charité-Gebäude
Die Charité um 1850 in Berlin.

Wie versuchte man, solche „verborgenen Winkel“ ans Licht zu holen?

Nehmen wir die geheime Prostitution als Beispiel. Während die registrierte Prostitution gesundheitspolizeilich überwacht werden konnte, entzog sich die sogenannte „Winkelprostitution“ jeglicher Kontrolle. Berlin galt im 19. Jahrhundert als ihre Hochburg, begünstigt durch die zahlreichen Schlupfwinkel und die Anonymität der Stadt. Bereits in den 1830er Jahren hat man an der Charité eine Station zur Aufnahme erkrankter Dirnen, wie man damals sagte, errichtet. Die Syphilis war die häufigste Geschlechtskrankheit und konnte fatale Folgen nach sich ziehen, nämlich im schlimmsten Fall zu progressiver Paralyse, dem völligen geistigen Verfall, führen. Die Durchseuchung der Bevölkerung mit Syphilis, die alle Gesellschaftsgrenzen überschritt, war die große Angst, die man mit der geheimen Prostitution verband.

An jener Station für die an Syphilis erkrankten Prostituierten wurde ein ausgeklügeltes Informationssystem entwickelt: Die eingelieferten Frauen wurden befragt, von wem die Infektion kommen konnte, und diese Leute wurden wieder ausgeforscht. Man kann sich das wie ein Schneeballsystem vorstellen, das über die Stadtgrenzen hinausreichte und ganz unterschiedliche Stellen oder Disziplinen zum Einsatz brachte: Polizei, Gesundheitsverwaltung, Stadtverwaltung und später auch die Fürsorge.

Inwiefern interessierte sich die Gesellschaft im 19. Jahrhundert besonders für das Phänomen des unentdeckten Geschehens?

Die Geschichte der Dunkelziffer, wobei es den Begriff erst seit 1908 gibt, beginnt schon mit der Aufklärung, im Englischen „Enlightenment“, als deren gewissermaßen begriffliche Kehrseite. Die Differenz zwischen einem faktischen Wissen um Verbrechen und der Vermutung, dass es eine weitaus größere oder bedrohlichere Realität gibt, die tut sich im ausgehenden 18. Jahrhundert auf. Besonders gut nachzeichnen lässt sich dies interessanterweise für den südwestdeutschen Raum, einem zu dieser Zeit in viele Verwaltungsterritorien zersplitterten Teil des Reiches. Erwerbslose, vagierende Personen, die sogenannten Gauner, wurden zunehmend als Gefahr für die öffentliche Sicherheit angesehen. Und diese wahrgenommene Bedrohung spiegelt sich in einer markanten Verdichtung an zeitgenössischen Veröffentlichungen zum Gaunerwesen.

Vor welchem ideengeschichtlichen Hintergrund spielte sich dies ab?

Dass das unbekannte Verbrechen zu einem Element moderner politischer Rationalität werden konnte, war ein neues Phänomen. Dies folgte erst aus dem Aufkommen einer aufgeklärten, modernen Rechtsordnung, der Reform des traditionellen Strafverfahrens und dem Streben nach einer am Wohl der öffentlichen Sicherheit orientierten, gut funktionierenden Verwaltung. Um auf die eingangs erwähnte Sprecher-Macht zurückzukommen: Die Rede vom unbekannten Ausmaß von Verbrechen und Delinquenz geht einher mit einer intensivierten Wissensgenerierung. So zählten Verbrechen und Delinquenz in der deutschen Spätaufklärung zum bevorzugten Feld eines psychologisch-anthropologischen Interesses. Auch in der Literatur und ihren neuen Erzählperspektiven spielten Delinquenz und Verbrechen eine zentrale Rolle. Vor allem aber waren erfolterte, unter körperlichen Qualen erzwungene Geständnisse ebenso wie die öffentlich vollzogenen Todesstrafen in Misskredit geraten. Auf den Plan traten neue Mittel, um an wahre und ungleich weiter reichende Aussagen zu kommen. An die Stelle der Todesstrafe als Mittel der Abschreckung vor Verbrechen tritt jetzt, zugespitzt formuliert, der wohlverwaltete, auf einer funktionierenden Kommunikation basierende und vor allem allwissende Staat.

War die Reduktion der Dunkelziffer das Projekt einer Verwaltungselite oder der Gesamtbevölkerung?

Dies lässt sich gut an einem Beispiel beantworten: Das Anzeigeverhalten der Bevölkerung ist der Dreh- und Angelpunkt, um Verbrechen aufzuklären. Nicht die Polizei, die Obrigkeit, die strafverfolgenden Behörden decken die meisten Verbrechen auf. Die größte Anzahl von Hinweisen zur Aufklärung von Verbrechen kommt direkt von der Bevölkerung. Bevor jemand allerdings bereit dazu ist, muss er erst einmal wissen und akzeptieren, dass es sich um eine bestimmte Straftat handelt. Denn letztlich ist das Thema noch komplexer: Was ich bis jetzt außer Acht gelassen habe, aber wesentlich mitverhandelt wird, ist die Frage der Normen. Was gilt als normal, was als deviant, was als ein Vergehen oder Verbrechen? Die Geschichte der Dunkelziffer ist keinesfalls als eine Geschichte des obrigkeitlichen Wissens zu verstehen, das immer weiter dringt, bis in die hintersten Winkel eines Landes, bis in die Seele jedes Verbrechers. Vielmehr würde ich sie zu jenen subtilen Regierungstechniken – im Sinne der Theorie der Gouvernementalität – zählen, die erst dann perfekt funktionieren, wenn, salopp formuliert, alle und unter denselben Bedingungen mitmachen. Wenn also, um zum Beispiel des Anzeigeverhaltens zurückzukommen, wirklich jeder seinen Nachbarn immerzu beobachtete und Vergehen meldete. Dies ist natürlich eine Utopie.

Gerade in der Kriminologie werden wir auch aktuell immer wieder mit der Dunkelziffer konfrontiert. Inwiefern stellen sich in Ihrem Projekt gegenwartsrelevante Fragen?

Lichtschein in einem dunklen Raum
Die Rede von der Dunkelziffer ist verbunden mit einem emotionalen, meist angst- und gefahrenbesetzten Raum.

Bei der alljährlichen Veröffentlichung der Kriminalstatistik wird ja immer darauf verwiesen, dass die erstellten Zahlen das sogenannte Hellfeld abbilden. Die Verantwortlichen werden nicht müde zu betonen, dass sie kein getreues Spiegelbild der Kriminalitätswirklichkeit geben. Die Dunkelziffer ist die größte Crux der Kriminalstatistik. Nicht alle Taten werden entdeckt, nicht alle entdeckten Taten werden angezeigt und von den angezeigten Delikten nicht alle verurteilt. Es bedarf vieler Schritte, damit eine Straftat in einer Statistik aufscheint. Dieser Problematik – ebenso wie der Messung von Unsicherheitsgefühlen – widmet sich die Dunkelfeldforschung. Sie konnte sich erfolgreich als kriminologische Subdisziplin etablieren und vermochte insbesondere in den letzten Jahrzehnten großangelegte Forschungsprogramme anzustoßen.

Entgegen der aktuellen Konjunktur der Dunkelfeldforschung liegt die Geschichte dieses „Wissens im Entzug“, wie ich das nenne, weitgehend im Dunkeln. Eben auf die historische Erhebung von Daten und Informationen, auf bestimmte gefahrenbesetzte Geschehnisse, die nicht ohne Weiteres zugänglich bzw. mit traditionellen sozialwissenschaftlichen Methoden in Erfahrung zu bringen sind, richtet sich mein Forschungsinteresse. Es handelt sich um eine Geschichte der Dunkelziffer avant la lettre, also bevor dieser Begriff geprägt wurde, lange bevor dieses Phänomen eine konkrete Bezeichnung erhalten hat. Und mit Phänomen meine ich nicht nur dieses propagierte unsichere Wissen oder das weitgehende Unwissen, sondern – das ist der springende Punkt – den mit dieser Figur in Anschlag gebrachten Handlungsbedarf, diese Dynamik des Verdachts. Also historisch wie aktuell stellt sich die nicht zuletzt auch erkenntnistheoretische Frage nach eben diesem prekären Verhältnis von einem in der Bezeichnung der Dunkelziffer geronnenen Nichtwissen und den mit ihr eröffneten Interventionsfeldern.

Das Interview führte Claudia Marion Voigtmann.

Dr. Sophie Ledebur forschte im akademischen Jahr 2017/18 am Kulturwissenschaftlichen Kolleg über „Wissen im Entzug – Zur Emergenz und Funktionslogik der Dunkelziffer im 19. Jahrhundert“. Derzeit ist sie Research Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien.