Universität KonstanzExzellenzcluster: Kulturelle Grundlagen von Integration

Bürokratie

Schwerpunkt des akademischen Jahres 2014/2015

Mit seinem neuen Schwerpunktthema im Kulturwissenschaftlichen Kolleg Konstanz versucht der Exzellenzcluster unterschiedliche disziplinäre Perspektiven auf Bürokratien zusammenzuführen. Das Thema ist als konzeptuelle wie empirische Spezifizierung auf der Schnittfläche der ersten drei Forschungsfelder des Clusters angesiedelt, also „Identifikation und Identitätspolitik“, „Praktiken des Wissens und Nichtwissens“, „Kulturelle Modellierung von Hierarchie und Gewalt“.

Bürokratien produzieren in ihren internen Prozeduren und Beziehungen nach außen Wissensasymmetrien und Grauzonen zwischen Wissen und strukturellem wie intendiertem Nichtwissen, zwischen Transparenz und Opazität; sie bilden einen geradezu klassischen Musterfall dafür, wie Machtbeziehungen institutionalisiert, Hierarchien nach innen wie nach außen modelliert und Gewaltverhältnisse – zynisch gesprochen – perfektioniert, aber auch wie sie beendet, transformiert oder in modifizierter Form fortgeschrieben werden; außerdem verfügen Bürokratien über ein großes Arsenal an Mechanismen, um Akteure und Akteursgruppen in unterschiedlicher Weise und Durchdringungstiefe zu identifizieren, indem sie je nach Kontext und infrastrukturellen Möglichkeiten standardisieren, klassifizieren, individualisieren und andere Spielarten des Identifizierens praktizieren.

Forschungsprojekte können sich insbesondere an drei im Fortgang näher ausgeführten Konkretisierungen orientieren:

  1. Bilder von Bürokratie
  2. Bürokratie und Gewalt
  3. Renaissance öffentlicher Bürokratien?

Während das erste Thema grundsätzliche sozialontologische und epistemologische Fragen zu formulieren erlaubt, die auch die vielschichtige Topik der Bürokratiekritik aufnehmen sollten, soll der zweite Punkt einen immer wieder behaupteten und kritisierten positiven Zusammenhang zwischen Bürokratie und (physischer wie struktureller) Gewalt historisch und konzeptuell auffächern. Unter der dritten Rubrik schließlich können sich explizit normative Überlegungen versammeln, die öffentlich-bürokratische Prozesse in ihrem Anspruch bzw. Auftrag, dem Gemeinwohl zu ‚dienen’, rekonstruieren und ernstnehmen.

1. Bilder von Bürokratie

Die Geschichte der Bürokratie-Theorie hat unterschiedliche Paradigmata ihres Gegenstandes hervorgebracht. Bürokratie wird als unpolitisches Werkzeug eines legitimen „Herrschaftsverbandes“ betrachtet (W. Wilson, M. Weber), als Voraussetzung verantwortlichen Regierungshandelns (C. J. Friedrich), als Integrationsinstanz (L. v. Stein, Philip Selznick), Gewaltwerkzeug (Z. Bauman, G. Agamben), als Mechanismus der Persönlichkeitsdeformation  (R. K. Merton)  oder der Entscheidungsentlastung (H. A. Simon) und Entfaltungsort unterschiedlicher Handlungsorientierungen und Führungsstile (A. Downs), als ‚organisiertes Chaos’ (Cohen, March & Olsen), Arena von Machtkonkurrenzen (G. T. Allison) und Kämpfen um Budget-Maximierung (W. Niskanen), als grundsätzlich anpassungsfähig und reformierbar (R. Mayntz, F. W. Scharpf) oder grundsätzlich sklerotisch und reformresistent (M. Crozier).

Solche vielfach untergründig, in vortheoretischer Gestalt auch alltagsweltlich wirksamen Bilder und Vor- bzw. Unterstellungen lassen sich in polemischen wie in apologetischen Varianten antreffen; sie strukturieren die Rede über Bürokratie wie die Selbstbilder von Bürokraten. Und sie bringen das mit hervor, was Alfred Weber die „suggestive Stärke“ bürokratischer Apparate genannt hat.

Ihre historischen Einsatzpunkte sind an konkrete praktische, mediale und theoretische (etwa rechtsdogmatische) Kontexte gebunden, die dem Eindruck eines stabilen Inventars von Bildern ohne zeitlich-räumlichen Index widerstreiten. Welche elementaren argumentativen Figuren also, welche ästhetischen Arrangements und narrativen Verlaufsmuster, welche ‚absoluten’ Metaphern lassen sich in welchen historischen und geographischen Kontexten ausmachen, wenn es darum geht, bürokratische Abläufe zu beschreiben, zu kritisieren oder auch zu initiieren, zu strukturieren und zu legitimieren?

Wie lassen sich landläufige und theoretische Einheits- in Prozessvorstellungen überführen und bürokratische Prozesse entsprechend in ihrer ganzen Pluralität und Materialität rekonstruieren, so dass insbesondere auch politikwissenschaftlich aufschlussreiche Handlungsprogramme und kultur- und medienwissenschaftlich interessante materielle Substrate wie Architekturen, Akten und Schreibtechnologien gleichermaßen rekonstruiert werden können? Wie greifen Prozesse von Formalisierung und Informalisierung, von Depolitisierung bzw. Neutralisierung und Politisierung ineinander, wie überlagern sie sich? Welches Zusammenspiel zwischen ethnographischen Zugriffsweisen und eher macht- und strukturorientierten Diskurs- und Institutionenanalysen ist methodologisch valide und praktikabel (J. Heyman, E. Schatz, C. Shore)?

2. Bürokratie und Gewalt

Klassische Texte der Bürokratiereflexion von Alfred und Max Weber, aber auch von Robert Merton haben die gewaltgleiche Zurichtung von Persönlichkeiten zu Beamten bzw. Bürokraten nachverfolgt, die in bürokratischen Institutionen ablaufenden Prozesse von Deformierung und Entpersönlichung geschildert. Insbesondere im Anschluss an einige Publikationen aus dem Bereich der Ethnologie macht die Frage nach dem Zusammenhang von Bürokratie und struktureller wie physischer Gewalt aktuell wieder einige Furore (A. Gupta, D. Graeber). Sie sollte innerhalb des Schwerpunkts als exemplarische Sonde dienen.

Insbesondere A. Guptas These, dass strukturelle Formen von Gewalt in indischen Bürokratien nicht als Effekte von hochverdichteter Staatlichkeit auftreten, sondern im Zuge einer Fragmentierung staatlicher Institutionen zu verzeichnen sind, die street-level-Akteuren entsprechende Ermessenspielräume und Optionen für situative Dominanzen belässt, verdient hier aufgegriffen zu werden. Wie nah kondensierte Formen von Gewalt in bürokratischen Abläufen konzeptuell und faktisch an direkte physische Übergriffe zu rücken sind, wird ebenfalls wieder erörtert. Dies nicht nur, weil moderne, dem ideologischen Anspruch nach totalisierte Formen der Bürokratie auf permanenter, direkter Gewaltandrohung basieren und Gewaltexzesse in zuvor nicht gekanntem Ausmaße hervorzubringen erlaubten (Z. Bauman; H. Arendt), sondern weil die befriedende, gewalteindämmende Wirkung bürokratischer Abläufe auch in gegenwärtigen humanitären Interventionen grundsätzlich in Frage steht (L. Goetschel/T. Hagmann; E.C. Dunn). Oder aber weil Gewaltereignisse im Gefolge zugelassener oder intendierter bürokratischer Blindheit auftreten.

3. Renaissance öffentlicher Bürokratien?

Während von ethnologischer Seite oftmals betont wird, wie sehr internationale, ‚westliche’ Vorstellungen und Praktiken von Bürokratie in lokale Kontexte eindringen und etablierte Formen des Konfliktaustrags, der Deliberation und Partizipation depolitisieren und diskreditieren (J. Ferguson), lässt sich in anderen disziplinären Milieus seit einigen Jahren in der Einschätzung von Form und Leistung genuin öffentlicher Bürokratien ein Gezeitenwechsel beobachten. Den durch eine im weitesten Sinne neoliberalistische Welle seit den mittleren siebziger Jahren zugeschütteten Eigenheiten einer öffentlich-administrativen Aktionssphäre und damit auch den Konturen formalisierter, gesetzesgebundener Verwaltungsabläufe wird wieder weitaus mehr Sympathie entgegengebracht (J. Clarke, P. du Gay). Sie werden in Opposition zum international zeitweise dominierenden New Public Management auch normativ wieder auf die Agenda gesetzt (Stichworte sind Post-Bureaucracy einerseits, New Weberianism andererseits) und empirisch in einer Weise rekonstruiert, dass Topoi der Bürokratiekritik den analytischen Blick nicht vorzeitig festlegen.

Die insbesondere in den von M. Foucault inspirierten Gouvernementalitätsstudien zwischenzeitlich ausführlich abgehandelten Zurichtungen von unternehmerischen Subjekten über alle sektoriellen Grenzen hinweg haben die Flexibilitäts- und Eigeninitiativerwartungen eines zeitgenössischen Sozialregimes als subtile Machttechniken entschlüsselt (U. Bröckling, C. Bartmann). Sie haben damit den Weg bereitet, auch in kulturwissenschaftlich geprägten Disziplinen normative und analytische Alternativen zu solchen ubiquitären Sozialtechnologien zu erwägen und scheinbar überholte und in zeitgenössischen westlichen Gesellschaften lebenspraktisch überwundene Oppositionen wie öffentlich-privat, formal-informell und zentral-dezentral/peripher neuerlich schärfer zu konturieren und sie konzeptionell auf der Höhe der Zeit (und möglichweise mit veränderter normativer Ausrichtung) zu reaktivieren (vgl. etwa B.G. Peters’ durchaus auch appellativ gemeintes Reclaiming the Center).

Für die normative Privilegierung der jeweils einen Seite lassen sich viele Beispiele anführen: Der bemerkenswerte Tatbestand, dass die Bereitstellung traditionell öffentlicher Dienstleistungen bei gleicher Qualität oftmals besser beurteilt wird, wenn sie von privater Seite verantwortet wird und nicht von einem öffentlicher Anbieter, ist schon seit längerem bekannt (S. Van de Walle).

Die Kulturtheorie J. Lotmans, die in jüngster Zeit insbesondere von Konstanz aus wieder in die Debatte eingebracht worden ist, bezieht einen wesentlichen Teil ihrer Originalität aus der asymmetrischen Oppositionsbildung stabiler Zentren und labiler (und deshalb innovationsfreudiger) Peripherien. Und der britische Sozialanthropologe K. Hart operierte als einer der ersten mit der Leitopposition formal/informell, als er urbane Ökonomien in Afrika untersuchte.

Die Assoziationsketten, die sich an diese in den frühen siebziger Jahren geprägte Unterscheidung anlagerten, wiesen rasch in eine gänzlich unintendierte Richtung: Eine gemeinte, nicht-exklusive Gegenüberstellung von formaler bureaucracy und informellen popular self-organizations wurde angesichts des Kalten Krieges in eine Frontstellung von Staatssozialismus und freier Markt umgemünzt, um dann im Zuge der Neoliberalisierung semantischer Bestände als Opposition Staat vs. Markt weiterzuleben – wobei die Marktseite die positiven Assoziationen der informellen Ökonomien gewissermaßen erbte und an sich binden konnte.

Vor diesem Hintergrund fällt auf, dass vielerorts öffentliche Bürokratien wieder an Wertschätzung gewinnen und in publizistischen Debatten, etwa Südeuropa betreffend, ihr Fehlen beklagt wird. Sogar die EU-Bürokratie hat in Robert Menasse einen public intellectual als Fürsprecher gefunden, der in seinem jüngsten Essay „Der europäische Landbote“ eine (sympathisierende) Ethnographie des europäischen Beamtentums anmahnt und zugleich die möglichen demokratietheoretischen Implikationen einer solchen Reevaluierung des europäischen Verwaltungsapparats benennt.

Öffentliche Bürokratien, etwa in Gestalt sog. „unabhängiger Behörden“, gehen als Sachwalter einer „negativen Allgemeinheit“ auch in P. Rosanvallons Neufassung demokratischer Legitimität ein, wie überhaupt die eingangs angeführte Vorstellungen von Bürokratien als ‚Werkzeugen’ und damit einhergehend von Bürokraten als ‚Technikern’ den Selbstbildern von Administrationsangehörigen gegenwärtig offenbar wenig entsprechen. Die in der für die Abfassung von Gesetzen zuständigen britischen Behörde Beschäftigten etwa sehen sich als – Denkende (E. C. Page).

Begleitprogramm

Plakat

Bureaucratics. In Ämtern und Würden
Fotoausstellung von Jan Banning
1. Mai–29. Juni 2014, Konstanz

Das ausstellungsbegleitende Vortragsprogramm stellt ausgewählte wissenschaftlichen Fragen zu Bürokratie und neue Erkenntnisse vor.

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