Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Wir oder Sie

Wie Erzählungen Gruppenzugehörigkeit modellieren

von Albrecht Koschorke

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Im Exzellenzcluster forscht Albrecht Koschorke unter anderem zum Thema „Erzähltheorie als Kulturtheorie“. Daraus ging das Buch „Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie“ hervor, das 2012 beim Fischer-Verlag erschienen ist.

Das Narrativ des Präsidenten

Als Obamas Präsidentschaft nach den euphorischen Anfängen in eine ernste Krise geriet, wurde ihm von wohlmeinenden Insidern nicht etwa falsche Politik vorgeworfen. Stattdessen hielt man ihm vor, er habe die „Kontrolle über sein politisches Narrativ“ verloren und sich in einem „narrativen Vakuum“ verloren.1 Den Wahlkampf hatte Obama hauptsächlich mit zwei Slogans bestritten: „We want change“ und „Yes we can“.

Ein Jahr nach seinem Amtsantritt unterzog die New York Times diese Slogans einer regelrechten erzähltheoretischen Analyse. Denn beide Formeln enthielten die Keimform eines Narrativs. „Yes we can“ drückte die Hoffnung aus, die parteipolitische Blockade in Washington zu überwinden und das Land politisch zu seiner verlorenen Einheit zurückzuführen. „We want change“ dagegen erzählte davon, dass Fehlentscheidungen der Bush-Administration rückgängig gemacht werden sollten.

Als Versprechen für eine unbestimmte Zukunft konnten beide gut nebeneinander bestehen. Aber als es an die politische Umsetzung ging, wurde der Widerspruch zwischen ihnen offenbar: „Yes we can“ bezog auch die Konservativen mit ein, „We want change“ war gegen die Politik der Republikaner gerichtet. Im kleingedruckten Subtext erwiesen sich beide Slogans mithin als unvereinbar. Denn sie sprachen zwei ganz unterschiedliche Adressatenkreise an: einmal das amerikanische Volk als Ganzes, das andere Mal seinen fortschrittlich-liberalen Teil. Es gab keinen politischen Weg, Wandel und Einheit miteinander in Einklang zu bringen. Weil Obama sich zwischen seinen beiden rhetorischen Vorgaben zerrieb, handelte er sich den Vorwurf ein, keine glaubwürdige „Story“ mehr zu haben. Und weil die Wähler das spürten, so argumentierte die Zeitung, wandten sie sich von ihm ab.

Wir-Gruppen: Partizipation und Ausschließung

Das Beispiel verdeutlicht, welche immense Bedeutung dem Erzählen auch außerhalb der Literatur zukommt, oder genauer: in welchem Maß das gesamte Feld sozialer Praktiken, von der Politik über das Recht und die Wirtschaft bis hin zur Wissenschaft, literarisch konditioniert ist. Dabei stellt es funktionell einen Vorteil dar, dass kein zweifelsfreies Erkennungszeichen erlaubt, zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen, Wirklichkeitstreue und freier Erfindung zu unterscheiden. Gerade seine fehlende Realitätsbindung lässt das Erzählen zu einer Matrix der schöpferischen Gestaltung von Wirklichkeit werden, die sich dann, zum Guten oder zum Schlechten, in der sozialen Empirie niederschlägt.

Eine der wichtigsten sozialintegrativen Funktionen von Erzählungen ist die Modellierung von imaginären Wir-Gruppen.

Eine der wichtigsten sozialintegrativen Funktionen von Erzählungen, ob zur Formel verkürzt oder zum Epos ausgestaltet, ist die Modellierung von imaginären Wir-Gruppen. Weil Erzählungen ein hohes Potential an Vieldeutigkeit haben, weil sie vage Leitbegriffe mit Leben zu füllen verstehen und in einem starken Maß Affektivität binden, können sie, zumindest vorübergehend, große Allianzen schmieden. Dazu verwenden sie zwei Mechanismen: Identifikation und Abgrenzung. Je nachdem, welche Seite sie akzentuieren, entfachen sie eher utopisch-vergemeinschaftende oder paranoid-ausgrenzende Energien. Häufig ist zu beobachten, wie auf eine utopische Erzählung, die offene Grenzen der Wir-Gruppe verspricht, eine paranoide Erzählung antwortet, die das Freund/Feind-Schema wiederherstellt. Das zeigt sich exemplarisch an der Reaktion der Tea-Party-Bewegung auf Obamas Versöhnungsrhetorik und allgemeiner an dem Hass, den liberale, urbane, kosmopolitische Weltentwürfe bei denTraditionalisten auf sich ziehen.

So kann es zu einem ‚Kampf der Erzählungen‘ kommen, der im Kern ein Wettstreit um die dominante Erzählposition ist. Denn es ist die Erzählposition, die auch über die Teilhabe der potentiellen Adressaten entscheidet. Die Fokalisation durch den Erzähler, also seine Blicklenkung auf das Geschehen und die auftretenden Figuren, richtet zugleich das Wahrnehmungsfeld der Rezipienten aus.

Den beiden Kardinalfragen der klassischen Erzähltheorie ‚Wer sieht?‘ und ‚Wer spricht?‘2 wäre eine dritte hinzuzufügen: ‚Wer weiß?‘ Denn auch davon, in welcher Form sich der Erzähler als Informant positioniert und Teilhabe an seinem Wissen ermöglicht, hängt die Partizipation des Publikums ab. Mit anderen Worten, die Eigenschaften der Erzählinstanz legen fest, welches Kollektiv sich um eine Erzählung gruppiert: welches Sehen, welche Sprache, welches Wissen von wem und mit wem geteilt werden können.

Hier ist nun eine grammatikalische Besonderheit erzählerischer Gruppenbildungen zu berücksichtigen. Sie sind wesentlich asymmetrisch konstruiert – jedenfalls in dem Maß, in dem das Moment der Schließung die Geste der Öffnung überwiegt. Wo dies der Fall ist, stellen sie sich weniger einem ‚Ihr’, das ihren unmittelbaren Konterpart bildet, als vielmehr einem nur indirekt angesprochenen ‚Sie’ entgegen. In ihrer Binnenkommunikation heißt die vorherrschende operative Differenz: Wir/Sie, erste gegen dritte Person Plural. Diese Disposition verstärkt sich, je höher entweder das Machtgefälle oder der Aggressionspegel ist. Zwischen zwei Gruppen, die miteinander im Konflikt liegen, besteht deshalb kein Verhältnis des Dialogs, sondern das Nicht-Verhältnis eines doppelten Monologs über die eigene Fremdbeobachtung der jeweils anderen Gruppe – ohne dass die eine oder die andere Partei die beiderseits errichtete Wissenssperre durchbricht. Während die Erzählung auf ihrer Innenseite Empathie stimuliert und geteilte Erfahrungen möglich macht, besteht eine bevorzugte Option auf ihrer Außenseite darin, Empathie zu entziehen und einen cordon sanitaire des Nichtwissens über den oder die anderen zu errichten.

Wer nicht zu der imaginären Gemeinschaft gehört, dem wird gewöhnlich keine Innensicht zugestanden.

Man erkennt das leicht an einem erzähltechnischen Detail: Wer nicht zu der imaginären Gemeinschaft gehört, zu der sich die Erzählinstanz oder ihre Repräsentanten im Text und Publikum in lockerer Fügung gruppieren, dem wird gewöhnlich keine Innensicht zugestanden. Diese Exklusionsschranke dient dazu, soziale und statusbezogene Abgrenzungen im Register des Imaginären zu stabilisieren. Je größer die gesellschaftliche Distanz, desto schwächer fällt schon alltagspsychologisch die Bereitschaft aus, sich in andere Personen hineinzuversetzen – und zwar ist sie, so lässt sich vermuten, auf der hierarchischen Stufenleiter nach unten noch geringer als nach oben: Einfühlung in Höhergestellte (Prominente, Amtsträger, Wirtschaftsbosse) steigert unter Umständen die eigenen sozialen Chancen, Einfühlung in Machtlose (Hartz-IV-Empfänger) nicht. Wie es Abstufungen in der individuellen Ausarbeitung der Charaktere gibt, so staffelt sich der soziale Raum relativ zum Beobachter in unterschiedliche Grade von Subjektfähigkeit.

In Konfliktlagen oder in der Behandlung sensibler, stark affektiv besetzter Themen ist es nachgerade ein Tabu, die gegnerische Position mit einer nachvollziehbaren Eigensicht auszustatten. Je stärker ein Kollektiv sich bedroht fühlt, desto mehr neigt es dazu, das Erzählen von der anderen Seite her zu unterdrücken. Es schließt sich zu einer kompakten Wir-Formation zusammen, die fortan als Akteur höheren Rechts auftritt; das Sehen, Sprechen und Wissen der anderen wird inkommunikabel und unbegreiflich; überhaupt verschwindet die Gegenseite hinter einem Schirm von Mystifikationen, deren Hauptfunktion darin besteht, die eigene Deutungshoheit gegen die Zumutungen einer (verleugneten) fremden Handlungsrationalität durchzusetzen. Wer sich dem Gruppendruck zu entziehen versucht, muss damit rechnen, seinerseits zu einer feindlichen Projek-tionsfigur ohne innere Ausdehnung, kurz: zu einem Kollaborateur und Verräter außerhalb der Gemeinschaft zu werden.

Lizenz zum Töten

Nach einer verbreiteten Erzählkonvention wird die ungleiche Positionierung der Akteure relativ zur Erzählperspektive als eine Frage von Leben und Tod behandelt. Erzähler haben die Lizenz zu töten, und sie machen davon in großem Umfang Gebrauch.3 Im populären Film würde häufig schon eine simple Auszählung der Sterbensquote ausreichen, um sich sozusagen auf statistischem Weg über die relative Distanz von Akteursgruppen zum Affektmittelpunkt des jeweiligen Genres zu unterrichten. So kommen im klassischen Western Dutzende von namenlosen Indianern zu Tode (vorzugsweise beim Angriff auf eine Kutsche), ohne dass dies mehr wäre als eine makabre Staffage, während die eigentliche Handlung sich um das Schicksal der Weißen dreht. In Actionfilmen werden oft ganze Populationen hingerafft, Städte und Weltteile zerstört, nur damit am glücklichen Ende eine Familie sich vereinigt, ein Vater seinen Sohn findet oder Kameraden ihre Mission zum Abschluss bringen.

Auf dem wirklichen theater of war, wie es im Amerikanischen heißt, schlägt sich dieses Erzählmuster, das die drei Gruppen von Freund, Feind und Unbeteiligten in klar unterschiedenen Aufmerksamkeitsregistern behandelt, in der Diskrepanz der praktizierten Schutzvorkehrungen und Totenzählungen nieder. Hier kommt eine archaische Erbschaft zu Geltung, die sich in dem Wort ‚Erzählen‘ auch etymologisch erhalten hat: dass es nämlich mit dem Zählen verwandt ist, dass jeder Plot eine Rechnung aufmacht und nicht zum Ende gelangen will, ohne einen Ausgleich zu schaffen. Deshalb ist die erzählerische Rahmung eines Konflikts oft von lebensentscheidender Wichtigkeit für alle, die darin involviert sind: Durch welches Ereignis wurde der Konflikt ausgelöst, seit wann tickt die Uhr, was ist Teil der Gesamtrechnung und was bleibt als abgeschattete Vorgeschichte außer Betracht?

Aber die Rahmung ist niemals hermetisch, leicht springt der Funke aus der Binnenerzählung in die Welt jenseits des Rahmens über. Das gilt vor allem dann, wenn die erzählte Geschichte ‚nicht aufgeht‘, wenn das Verlangen nach Gerechtigkeit ungestillt bleibt und ein Impuls fortwirkt, diesem Verlangen praktische Konsequenzen folgen zu lassen. Dann kann der ungesättigte Plot ein Heer von Rächern entlassen, die seine Handlungslogik auf eigene Faust ausagieren. Deshalb sind Nationalmythen so wirksam, die von einem ungesühnten Unrecht oder einer noch immer schmerzenden Niederlage erzählen und den Appell in die Zukunft entsenden, das versäumte Erlösungswerk nachzuholen.

Grenzgänger

Dass Erzählungen Verrechnungszusammenhänge herstellen und klassischerweise in Menschenleben bezahlen lassen, unterstellt sie dem Gesetz einer symbolischen Ökonomie des Todes. Auch hier ist wieder die Rahmung des Handlungsablaufs von entscheidender Bedeutung. Im Gegensatz zu Verlusten auf der eigenen Seite erfolgt die Tötung des Feindes gewöhnlich straffrei; wenn sie Folgehandlungen hervorruft, dann sind dies wiederum feindliche Akte; die Zone der Gerechtigkeit erstreckt sich – jedenfalls in den einfacheren Varianten dieses Handlungsmusters – nur auf die Wir-Gruppe, die sich, um der eigenen Gerechtigkeit zum Erfolg zu verhelfen, in ein Tötungskollektiv verwandelt (Schema der befriedigten Rache). Es ist erstaunlich, wie viele Probleme noch in modernsten Settings erzählerisch durch den archaischen Akt der Tötung eines Feindes, der das Böse in sich inkorporiert, bearbeitet werden und wie stark dieses triviale Schema bis heute die politisch-militärische Praxis bestimmt. Ohnehin lässt die Befriedigung, die durch das Ausagieren primitiver Polarisierungen zu gewinnen ist, darauf schließen, dass diese Art des Erzählens eine archaische Erbschaft mit den dazugehörigen Reflexen verwaltet.

Fast immer stimmt die im Erzählverlauf konstruierte Wir-Gemeinschaft mit der Gruppe der ‚Guten‘ überein. Soziale und Wertungsaspekte sind nicht zu trennen, und kaum je wird das polare Schema der Identifikation mit den ‚Guten‘ gegen die ‚Bösen‘ konsequent über den Ausgang der Geschichte hinaus durchbrochen. Allerdings gibt es Übergangsfiguren, die oft nicht nur am vielseitigsten, sondern auch für das Vorantreiben der Geschichte am wichtigsten sind. Zudem muss in jeder Geschichte ein zentraler Protagonist die liminale Zone zwischen ‚gut‘ und ‚böse‘, ‚uns‘ und den ‚anderen‘ zumindest berühren, er muss seinerseits ambivalente Züge annehmen und sich der Gegenpartei annähern, weil andernfalls gar kein narrativer Verkehr über die Grenze hinweg stattfinden würde.

Die Grenzgänger zwischen den Fronten – die gespaltenen und hybriden Existenzen, Dolmetscher, Doppelagenten oder nach dem Vorbild von Romeo and Juliet unglücklich Liebenden – sind sogar für das System der Feindschaft unentbehrlich, das sonst glatt in zwei beziehungslose Hälften zerfallen würde. Ihre Daseinsweise ist nicht anders als paradox beschreibbar, weil sie sowohl den Ort der Grenzziehung als auch des Übergangs, der Nichtkommunikation wie der Übersetzung, des Gegensatzes wie der Ähnlichkeit markieren.4 Hier stoßen integrierende und desintegrierende Dynamiken aufeinander, weshalb genau in dieser Zone etwas unvorhersehbar Neues entstehen kann. So gilt auch für den erzähltheoretischen Zugang eine Lektion, die in den vergangenen Jahren im Cluster zu lernen war: dass es nämlich am fruchtbarsten ist, das Problemfeld derIntegration/Desintegration nicht von der Mitte, sondern von den Rändern aus zu erschließen.


1 Stevenson, R. W., A Narrative Vacuum. It’s not easy pitching a nation of angry voters, fixed opposition and scattered media. Not when you’ve made yourself hard to define, in: New York Times, Beilage der Süddeutschen Zeitung (8.2.2010), S. 1.

2 Genette, G. (1998): Die Erzählung, 2. Aufl., München, S. 132.

3 Ich danke Juliane Vogel für ein anregendes Gespräch über dieses Thema im Herbst 2010.

4 Vgl. Eßlinger, E. u.a. (Hg.) (2010): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, Berlin.

Albrecht Koschorke

Prof. Dr. Albrecht Koschorke lehrt Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Er ist Vorstandsmitglied des Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen von Integration“.

Themen Thesen Texte

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Dieser Beitrag erschien zuerst im Clustermagazin „Themen Thesen Texte“ 1/2011.

Das Heft erhalten Sie kostenlos bei claudia.voigtmann[at]uni-konstanz.de (solange der Vorrat reicht).

Inhalt

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Wir oder sie. Wie Erzählungen Gruppenzugehörigkeit modellieren
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