Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Wer ist der Narr?

Eine Geschichte von Atheismus, Unglauben und Zweifeln

von Dorothea Weltecke

Publikation

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Die Ergebnisse langjähriger Forschungen zum Thema ihres Beitrags veröffentlichte Dorothea Weltecke 2010 unter dem Titel „Der Narr spricht: Es ist kein Gott.“ Atheismus, Unglauben und Glaubenszweifel vom 12. Jahrhundert bis zur Neuzeit (Frankfurt am Main/New York).

Atheismus

Heute ist es nichts Ungewöhnliches, nicht an die Existenz eines Gottes zu glauben. Die politischen Debatten kreisen hauptsächlich um religiöse Menschen, nicht um Atheisten. Letztere gelten offenbar nicht als problematisch. Selbstredend ist das noch nicht lange so.

Noch um 1920 beklagte sich der Publizist Fritz Mauthner (1849–1923) darüber, dass ein Atheist nicht für würdig erachtet würde, überhaupt ein Amt anzunehmen – und sei es als Briefträger. Von Fritz Mauthner stammt die erste deutsche Geschichte des Atheismus. Erst in der Nachkriegszeit kam ein zweiter Versuch dazu. Hermann Ley (1911–1990), unter anderem Professor für philosophische Fragen der modernen Naturwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin zu Zeiten der DDR, schrieb über zwei Jahrzehnte an einer Weltgeschichte des Atheismus.

Ihre und andere Geschichten des Atheismus oder der Aufklärung, wie viele ältere Werke auch heißen, haben gemeinsam, dass sie Atheismus als die rationalere, fortschrittlichere Haltung ansahen. Die Autoren glaubten, dass es zu allen Zeiten kritische Menschen gegeben haben musste, die die kalte Wirklichkeit erkannten, dass es keinen Gott gibt. Außerdem glaubten sie, Atheisten seien im Mittelalter verfolgt worden. Freies philosophisches Denken in diese Richtung sei entweder verboten oder vernichtet worden. Man habe, bedroht von den Scheiterhaufen der Inquisition, nicht ehrlich sein können und seine Überzeugung höchstens zwischen den Zeilen für Gleichgesinnte verstecken müssen. Damit standen sie in einer alten Tradition: Diese Geschichte von der Verfolgung der Atheisten im Mittelalter wird seit dem 17. Jahrhundert von Atheisten erzählt.

Und es ist auch eine starke These, die zudem unmittelbar einleuchtet. Sie hat allerdings einen entscheidenden Nachteil. Sie lässt sich nicht beweisen. Deshalb hat sie wissenschaftlich nie überzeugt. Es gab nie haltbare Belege für Menschen im Mittelalter, die nicht an die Existenz Gottes glaubten, nur Vermutungen und Interpretationen. Dagegen ist genau die romantische Weichzeichnung des Mittelalters weiterhin verbreitet, gegen die kritische Geister wie der Philosophiehistoriker Kurt Flasch immer gekämpft haben: Die meisten Forscher glauben tatsächlich, es sei im Mittelalter schlechterdings undenkbar gewesen, dass es keinen Gott gebe. Auch diese Theorie ist allerdings auf Sand gebaut, nämlich auf derselben Tatsache, dass sich Nichtglauben bisher nicht in schriftlichen Quellen nachweisen ließ. Man kann aber historische Theorien nicht damit stützen, dass man etwas nicht findet, schon gar nicht, wenn man es nur dort nicht findet, wo man es erwartet, wie in den Werken der Philosophen oder in den Inquisitorenakten.

Der Begriff und die Konzeption „Atheismus“ entstanden nachgewiesenermaßen erst allmählich seit dem 16. Jahrhundert. Zuerst kanzelten Kirchenpolitiker mit diesem Begriff allerhand Gegner ab, die nicht fromm genug waren, auf einer anderen Seite des konfessionellen Spektrums standen oder kirchenkritische Äußerungen vorbrachten. Wie insbesondere Winfried Schröder und Martin Mulsow gezeigt haben, entstanden erst im 17. Jahrhundert atheistische Theorien, also positive Argumente dafür, dass es keinen Gott gibt. Weder den Begriff „Atheismus“ noch atheistische Theorien wird man vor 1500 finden; das hat sich erledigt.

Mythen über Glauben und Unglauben im Mittelalter

Aber hat es im Mittelalter Menschen gegeben, die einfach nicht an die Existenz eines Gottes glaubten? Und wenn es sie gegeben hat, welche Möglichkeiten stehen der historischen Forschung zu Gebote, diese Menschen nachzuweisen? Zu Recht hat Winfried Schröder gefordert, dass man nach all den Nebelkanonen der letzten Jahrhunderte den „rauchenden Colt“ vorlegen muss, die ausdrückliche Rede vom Zweifel an der Existenz Gottes, wenn man sie beweisen will.

Also mussten die älteren Theorien und Argumente überprüft, Quellen nochmals gelesen, Methoden und Begriffe kritisiert, sprachliche Formeln und Gesetze gesiebt werden. Anders als früher sollten Abweichler von der katholischen Norm nicht als erste Stufe der Aufklärung und des Atheismus gelten. Dies entspricht nämlich nicht dem Stand der historischen Forschung. Man weiß längst, dass die Vorstellung von der Einheitlichkeit des christlichen Glaubens im Mittelalter ein moderner Mythos ist. Man weiß auch seit langem, dass viele Menschen im Mittelalter zentrale Glaubenssätze der römischen Kirche nicht glaubten oder wenigstens bezweifelten. Kein einziges Dogma ist unangefochten geblieben. Viele wurden als Reaktion auf Kritik überhaupt erst stark gemacht. Dazu kam immer wieder massive Kritik an der Kirche als Institution und zum Teil gewaltsamer Protest gegen Priester. Nur die Zerstörung unseres romantischen Bildes vom Zeitalter des Glaubens ist noch überfällig. Auch über die Frömmigkeit im Mittelalter darf man sich keinen Illusionen hingeben. Die Dominikaner und Franziskaner begannen zum Beispiel im 13. Jahrhundert ihre Predigtkampagnen nicht zuletzt deshalb auf Marktplätzen, weil sie ihr Zielpublikum dort und nicht in den Kirchen fanden. Aber ebenso wenig wie heute ist es ein Beweis für Atheismus, wenn Menschen das Geschäftemachen oder den Wirtshausbesuch dem Kirchgang vorziehen. Die Desinteressierten, die Ignoranten, die Gegner der Lehren der römischen Kirche oder auch die Naturphilosophen an den Universitäten gaben nicht den Glauben an die Existenz eines Gottes auf. Sie gehörten nur anderen theologischen oder philosophischen Richtungen an, folgten anderen Lehren, anderen Mythen und konnten so allerdings in massiven Konflikt mit der römischen Kirche kommen.

Gläubige Gelehrte versus zweifelnde Narren?

Mit dem Gedanken der Nichtexistenz Gottes verhält es sich anders. Sehr wohl konnte man ihn an den Universitäten formulieren. Der Theologe Thomas von Aquin tat es im 13. Jahrhundert Die meisten Gelehrten, auch die Philosophen, fanden diese Überlegung aber zu absurd. Für den Philosophen Siger von Brabant galt sie zur selben Zeit genauso viel wie die Behauptung, dass der Trojanische Krieg noch anhielte; sie taugte für eine sophistische Spielerei, nicht für eine ernsthafte Erörterung. Man wäre nicht dafür verbrannt worden – aber ausgelacht, und das ist für Gelehrte vielleicht noch schlimmer. Die größte Überraschung bot nämlich die Überprüfung der These, dass die Atheisten des Mittelalters blutig verfolgt wurden. In die Zuständigkeit der mittelalterlichen Inquisitoren fielen abweichende Theologien und Kosmologien, falsche Praktiken und unbelehrbare Philosophen. Für Zweifel allein, für reinen Nichtglauben, interessierten sie sich nicht. Denn auch die Inquisitoren waren Gelehrte. Und auch sie nahmen Zweifel an der Existenz Gottes nicht ernst. Ein Theologe des 13. Jahrhunderts erklärte kurz und bündig, dass sich ein solcher ignoranter Einfaltspinsel jenseits jeder menschlichen Strafe befände. Wem man erklären müsse, dass Schnee weiß sei, der brauche Verstand, nicht Strafe. Er sei zu ungehobelt, um überhaupt irgendeine Erklärung zu begreifen.

Nicht an Gott zu glauben war in den Augen der Theologen und der Juristen nicht die radikale Abweichung vom Glauben der römischen Kirche, wie es heute scheint, sondern entweder also eine ignorante Narretei – oder eine Sünde. Sünden waren verzeihlich, normal, menschlich, sie gehörten einfach zum Leben. Sünden waren eine Sache, die man mit sich, seinem Gewissen und seinem Beichtvater auszumachen hatte. Und hier, in der Beichte und in der frommen Literatur, sind die Beweise für Nichtglauben im Mittelalter zu finden. Hier werden die Zweifel an der Allmacht, am Erlösungswerk und der Gerechtigkeit Gottes tatsächlich ausdrücklich ausgesprochen. Hier kann sogar die Existenz Gottes selbst bestritten werden. Und mehr noch: Immer wieder blitzt seit dem 11. Jahrhundert der Gedanke auf, man könne einem riesigen Betrug, einem ungeheuren Popanz aufgesessen sein. Die ungerechte Welt und das eigene Leiden schienen es immer wieder zu beweisen. Der erste, der diese Gedanken aussprach, war übrigens ein Mönch. Wer ist also der Narr – derjenige, der glaubt, oder derjenige, der nicht glaubt? Niemand möchte der Hanswurst sein, die Menschen des Mittelalters nicht und auch wir nicht. Der Zweifel bleibt …

Dorothea Weltecke

Prof. Dr. Dorothea Weltecke lehrt Geschichte der Religionen und des Religiösen an der Universität Konstanz. Sie ist maßgeblich beteiligte Wissenschaftlerin des Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen von Integration“.

Themen Thesen Texte

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Dieser Beitrag erschien zuerst im Clustermagazin „Themen Thesen Texte“ 1/2011.

Das Heft erhalten Sie kostenlos bei claudia.voigtmann[at]uni-konstanz.de (solange der Vorrat reicht).

Inhalt

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