„Doppelte Religion“ und (Des-)Integration
Eine antike Vorstellung mit Strahlkraft für die globalisierte Welt
von Jan Assmann
Das Geheimnis dieser Integration war Geheimhaltung. Eine der beiden Religionen musste geheim gehalten und buchstäblich im Untergrund praktiziert werden, um mit der anderen friedlich koexistieren zu können. Als öffentliche Religion galt die Volksreligion, als geheime eine Religion einer Elite von Eingeweihten. Die Volksreligion war polytheistisch, hier wurde die bunte Fülle der meist tiergestaltigen Gottheiten verehrt, die man auf den ägyptischen Tempelwänden abgebildet sah; die Geheimreligion dagegen galt einer einzigen, allumfassenden Gottheit, die unter verschiedenen Namen oder auch vollkommen namenlos verehrt wurde.
Publikation
Im Rahmen des Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen von Integration“ entstand das Buch Religio Duplex. Ägyptische Mysterien und europäische Aufklärung von Jan Assmann – neben vielen anderen Publikationen des Ägyptologen, Religions- und Kulturwissenschaftlers. Als Projekt war Religio Duplex schon Teil des Erstantrags 2006. Das Werk erschien im Herbst 2010 im Verlag der Weltreligionen bei Suhrkamp (Frankfurt am Main).
Zwei Eigentümlichkeiten der altägyptischen Kultur schienen diese Deutung zu bestätigen. Die eine bestand in der Existenz zweier scheinbar ganz verschiedener Schriftsysteme: zum einen einer Bilderschrift, den Hieroglyphen. Von diesen nahm man an, dass sie sich nicht auf Wörter und Silben, sondern auf Konzepte und Dinge bezogen und als Geheimschrift der Eingeweihten fungierten, um ihre Weisheit in verschlüsselter, den Profanen unzugänglicher Form zu überliefern. Das andere Schriftsystem war eine bildlose, anscheinend alphabetische Normalschrift, die alle lernten und die für Alltagszwecke verwendet wurde. Heute wissen wir, dass die zweite Schrift nur die Kursivform der ersten ist, aber schon die Griechen glaubten, es handele sich um zwei grundverschiedene Schriften.
Die Andere Eigentümlichkeit bestand in der Fülle über und über beschrifteter und bebildeter unterirdischer Anlagen. Wie wir heute wissen, handelte es sich um Gräber, aber im 18. Jahrhundert stellte man sich darunter die Forschungsstätten, Wissensspeicher und Kultorte der Geheimreligion vor.
Von den ägyptischen Mysterien zur europäischen Aufklärung
In dieser Form geht die Deutung der altägyptischen Kultur als einer doppelten Religion – oder religio duplex – schon auf die Römer und Griechen, und wahrscheinlich sogar auf die ägyptischen Priester selbst zurück, die ihre Religion den neugierigen Fremden, die an den tiergestaltigen Gottheiten Anstoß nahmen, als eine Doppelreligion darstellten, hinter deren volkstümlicher Fassade sich eine tiefe, nur den Eingeweihten zugängliche Weisheit verbarg. Im 18. Jahrhundert aber kam nun noch eine ganz andere, politische Deutung hinzu, die dieses Modell für die damalige Zeit hochaktuell machte und eine eigentümliche Verbindung von ägyptischen Mysterien und europäischer Aufklärung stiftete. Jetzt verband man mit der Geheimreligion die Idee der „natürlichen Religion“ oder Religion der Natur, die als all-hervorbringende und all-erhaltende Gottheit von den Ägyptern unter dem Namen Isis verehrt wurde und jetzt mit Spinozas Idee der natura naturans gleichgesetzt wurde. Die Religion dieser Gottheit aber konnte nicht staatstragend sein, denn die Natur kennt nicht Freunde und Feinde, Nationen und Grenzen, Klassen und Stände. Daher mussten die Völker des Altertums, soweit sie nicht wie die Israeliten durch göttliche Offenbarung geleitet waren, Gottheiten erfinden, die über die Einhaltung der Gesetze wachen und die politischen und sozialen Einheiten verkörpern, in die sich die menschliche Welt nun einmal gliedert. Die Wahrheit durfte jedoch darüber nicht in Vergessenheit geraten, und so wurden die Mysterien eingerichtet, um sie im Schutz unterirdischer Anlagen durch Eingeweihte zu pflegen und kommenden Generationen weiterzureichen. In diesem Modell nun erkannten sich die Geheimgesellschaften, die im späten 18. Jahrhundert in allen europäischen Ländern aufblühten und eine große kulturelle, politische und soziale Rolle spielten, wie in einem Spiegel wieder.
Viele von ihnen, vor allem die Illuminaten, verstanden sich als Träger einer radikalen Aufklärung, die unter den Bedingungen von Absolutismus und Orthodoxie nur im Untergrund, d.h. im Schutzraum der Logen, betrieben werden konnte. Die Illuminaten, ein 1776 von dem Ingolstädter Professor Adam Weishaupt gegründeter Orden, hatten sich zum Ziel gesetzt, auf dem Wege individueller Selbstveredelung allmählich die Gesellschaft so weit zu verbessern, dass der Staat überflüssig wird. Wien, wo der Gegensatz von Volkskatholizismus und Aufklärung besonders krass in Erscheinung trat, hieß unter Illuminaten „Ägypten“; und die Wiener Loge Zur Wahren Eintracht, eine Hochburg des Illuminismus, wurde in den 80er Jahren zum Zentrum einer ausgedehnten Mysterienforschung, die in ganz Europa betrieben wurde und sich in einer Fülle von gelehrten Publikationen niederschlug. Die berühmteste Frucht dieser Forschung war Mozarts Oper Die Zauberflöte, die das Modell der religio duplex, nach außen Volksreligion und Aberglaube, nach innen Mysterium und Weisheit, in der Form einer opera duplex, nach außen Volksoper und Zaubermärchen, nach innen Einweihung und Erleuchtung realisiert. Mozart stand als Freimaurer mit der „Wahren Eintracht“ und ihrer Mysterienforschung in engster Verbindung.
Von exklusiven Geheimgesellschaften zur universellen Idee der doppelten Mitgliedschaft
Eine ganz neue Form nahm die Idee der doppelten Religion bei Mendelssohn und Lessing an, in der sie auch für uns heute eine gewisse Aktualität besitzen könnte. Da geht es nicht um die eine Kultur oder Gesellschaft, die zwei verschiedene Formen von Religion integriert, sondern um den einzelnen Menschen, der zwei verschiedenen Formen von Religion angehört. Aus dem Modell der doppelten Religion wird bei ihnen die Idee der doppelten Mitgliedschaft und aus der Antithese von Volksreligion und Geheimreligion die Unterscheidung von partikularer und universaler Religion, unter der Mendelssohn und Lessing aber, genau wie die Theorie der religio duplex, die „natürliche“ Religion verstehen. Jetzt stehen sich „positive“ oder Offenbarungsreligion und „natürliche“ Religion gegenüber, aber nicht mehr als unversöhnliche Gegensätze, sondern als eine Zweiheit, die in der Natur sowohl Gottes als auch der Menschen angelegt ist, denen sich Gott auf zweifache Weise, in Wort und Schrift und in Natur und Geschichte offenbart hat. Die eine Offenbarung ist partikular und bezieht sich in je anderen Worten und Schriften auf Juden, Christen und Muslime, die andere ist universal und allen Menschen kraft ihrer Vernunft zumindest andeutungsweise lesbar. Jeder Mensch ist in beide Religionen hineingeboren und hat an ihnen Anteil.
Mendelssohn und Lessing ging es darum, die Geltung der Schriftoffenbarung einzuschränken. Das Problem dieser Offenbarung liegt darin, dass sie zugleich exklusiv und universal sein will: nur einer bestimmten Gruppe gegeben, aber für alle Menschen gültig. In diesem Widerspruch machten sie eine Quelle von Intoleranz und Gewalt ausfindig. Dieser Sprengstoff lässt sich nur entschärfen, wenn man den Begriff der Offenbarung relativiert, so wie Lessing das auf unvergleichliche Weise in der berühmten Ringparabel vorführt, mit der er seinen Nathan auf Saladins Frage antworten lässt, welches Gesetz oder welcher Glaube ihm am meisten einleuchte. Ein Ring, der die Kraft hat, seinen Träger bei Gott und Menschen angenehm zu machen, wird vom Vater jeweils dem unter seinen Söhnen vererbt, den er am meisten lieb hat, bis der Ring an einen Vater kommt, der sich unter seinen drei Söhnen nicht entscheiden kann und zwei Kopien herstellen lässt, dem echten so gleich, dass er selbst den Unterschied nicht mehr feststellen kann. Jeder Sohn muss nun seinen Ring im Glauben tragen, es sei der echte, und zugleich wissen, dass die anderen den ihren mit gleichem Recht tragen.
Mendelssohn und Lessing hatten bereits – oder noch? – eine multikulturelle und multireligiöse Gesellschaft im Blick, in der Christen, Juden und Muslime im selben Haus zusammenlebten. Dieses „Haus“ war weder Deutschland, das es im politischen Sinne damals gar nicht gab, noch Europa, sondern die Welt: „Kosmopolitismus“ und „Menschheit“ bzw. „Humanität“ waren die Worte der Stunde, die sich besonders die Illuminaten auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Was ein Kosmopolit ist, definierte Lessing in seinen „Freimaurergesprächen“, die er unter dem Titel Ernst und Falk veröffentlichte.
„Die bürgerliche Gesellschaft,“ sagt Falk, „kann die Menschen nicht vereinigen, ohne sie zu trennen; nicht trennen, ohne Klüfte zwischen ihnen zu befestigen, ohne Scheidemauern durch sie hin zu ziehen. So wäre es recht sehr zu wünschen, daß es in jedem Staat Männer geben möchte, die über die Vorurteile der Völkerschaft hinweg wären, und genau wüßten, wo Patriotismus Tugend zu sein aufhöret; die dem Vorurteile ihrer angebornen Religion nicht unterlägen; nicht glaubten, daß alles notwendig gut und wahr sein müsse, was sie für gut und wahr erkennen; Männer, welche bürgerliche Hoheit nicht blendet, und bürgerliche Geringfügigkeit nicht ekelt.“
Lessing stellt sich die Freimaurer als solche Männer vor, Wieland entwarf einen „Kosmopolitenorden“, in Gotha nannte sich eine Loge „Kosmopoliten“, Herder aber verwarf die Idee der Geheimgesellschaft und identifizierte die république des lettres, die Republik der Gelehrten und Literaten, als Träger dieses Kosmopolitismus, der jenseits der angestammten religiösen, politischen und sozialen Besonderheit das Allgemein-Menschliche im Blick hat und den anderen nicht nur toleriert, sondern als Träger sowohl von Andersheit als auch von Gemeinsamkeit anerkennt.
Wo es wirklich darauf ankommt, dass Anhänger verschiedener Religionen in einem Hause zusammenleben, ist Lessings und Mendelssohns Idee der doppelten Mitgliedschaft vielleicht die beste Lösung. Heute, im Zeitalter der Globalisierung, ist die ganze Welt zu einem solchen Haus geschrumpft, in dem die Religionen lernen müssen zusammenzuleben. Das gelingt nur, wenn sie jenseits der Grenzen, die sie ziehen, das Gemeinsame erkennen und die andere Religion nicht als Heidentum, Unglauben oder auch nur „wesensfremd“ („Der Islam gehört nicht zu Deutschland.“) ausgrenzen.
Wenn es so etwas wie eine „Leitkultur“ gibt, die als „kulturelle Grundlage von Integration“ funktioniert, dann kann sie nur in einem System übergreifender, transkultureller, transreligiöser Werte und Normen wie Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, Gewaltenteilung bestehen, zu denen sich jeder gleich welcher Nationalität, Religion, Rasse oder Klasse bekennen kann. Solche Gemeinsamkeit, die es jenseits kultureller Besonderheiten auszubilden gilt, ist weniger gegeben als vielmehr aufgegeben, sie gilt es, mit konkreten Inhalten und normativer Strahlkraft auszustatten, um „die Trennungen unter den Menschen“, von denen Lessing schrieb, die kulturellen Grundlagen von Desintegration also, durch kulturelle Grundlagen von Integration zu überwinden.
Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Jan Assmann ist Ägyptologe und Kulturwissenschaftler, er lehrte bis zu seiner Emeritierung 2003 an der Universität Heidelberg. Jan Assmann ist maßgeblich beteiligter Wissenschaftler des Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen von Integration“.
Themen Thesen Texte
Dieser Beitrag erschien zuerst im Clustermagazin „Themen Thesen Texte“ 1/2011.
Das Heft erhalten Sie kostenlos bei claudia.voigtmann[at]uni-konstanz.de (solange der Vorrat reicht).
Inhalt
„Doppelte Religion“ und (Des-)Integration. Eine antike Vorstellung mit Strahlkraft für die globalisierte Welt
Von Jan Assmann
Wir oder sie. Wie Erzählungen Gruppenzugehörigkeit modellieren
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