Konstanzer Meisterklasse – Nachrufe
von Bernhard Giesen
Shmuel N. Eisenstadt
Der israelische Soziologe Shmuel N. Eisenstadt (*1923 – †2010), Mitbegründer der Konstanzer Meisterklasse, ist tot. 1999 leitete er mit Lord Dahrendorf die erste Meisterklasse zum Thema „Europa im Zivilisationsvergleich“. Ein zweites Mal nahm er zusammen mit Jan Assmann, Lord Dahrendorf und Mary Douglas bei der Meisterklasse 2003 „Politics and Religion“ teil.
Eisenstadt wurde 1923 in Warschau geboren. 1935 emigrierte er zusammen mit seiner Mutter nach Palästina. Ab 1946 studierte und promovierte er an der Hebrew University in Jerusalem, unter anderem bei Martin Buber. Von 1959 bis 1990 hatte er den ersten israelischen Lehrstuhl für Soziologie inne. Über die Jahre bekleidete er zahlreiche Gastprofessuren in USA und Europa.
Eisenstadts frühe Forschungen drehten sich um die israelische Gesellschaft der fünfziger und sechziger Jahre. Bekannt wurde er mit der jugendsoziologischen Studie From Generation to Generation (1956) sowie mit der These, dass sich das Judentum nicht allein als religiös oder national definieren lasse, sondern – wie das Christentum und der Islam – als Zivilisation begriffen werden müsse.
Nach mehreren Arbeiten zu Modernisierung und sozialem Wandel publizierte Eisenstadt 1986 sein erstes Hauptwerk The Origins and Diversity of Axial Age Civilizations (1987/92 in fünf Bänden auf Deutsch veröffentlicht als Kulturen der Achsenzeit). In der Tradition von Karl Jaspers, Alfred Weber und Eric Voegelin, aber auch von Strukturfunktionalisten wie Talcott Parsons und Edward Shils, führte er hier universalgeschichtliche Untersuchungen zur Achsenzeit durch. Unter „Achsenzeit“ verstand er, wie bereits Jaspers, die Epochenschwelle um 800 vor unserer Zeitrechnung, in der fast zeitgleich neue Visionen in China (Konfuzius, Laotse), Indien (Buddha), Persien (Zarathustra), Palästina (Propheten) und Griechenland (Philosophen) entstanden, welche auf die Erfahrung der Begrenztheit menschlichen Lebens und gesellschaftlicher Spannungen antworteten. Das Konzept verweist auf den unversöhnlichen Gegensatz zwischen der diesseitigen Ordnung der Herrschaft und des Geldes und den ewigen, jenseitigen Prinzipien der Kultur und der Intellektuellen, der nur unter bestimmten historischen Bedingungen hervortritt.
Diese Arbeiten, welche „Kritik“ quasi historisierten, markierten einen Höhepunkt in der vergleichenden historischen Kultursoziologie und schufen die Voraussetzung zu einer neuen Synthese von Makrosoziologie und Geschichtswissenschaft. Eisenstadt führte sie später weiter in Kulturvergleichen unterschiedlicher Wege in die Moderne, wobei ihn hauptsächlich die Vielfalt und die Antinomien der Moderne faszinierten (Multiple Modernities, 2000). Bahnbrechend war an dieser Stelle etwa die monumentale Studie Japanese Civilization – A Comparative View (1996).
Eisenstadts großes internationales Ansehen schlug sich in mehreren prestigeträchtigen Auszeichnungen nieder, etwa im Balzan-Preis (1988), im Max-Planck-Forschungspreis (1994) oder im Holberg-Preis (2006). In diesem Jahr erscheint zu Ehren Eisenstadts eine Festschrift (Orit Gazit & Gad Yair, eds: Collective Identities, States and Globalization). Am 2. September 2010 verstarb Eisenstadt in seiner Heimat Jerusalem.
Mohammed Arkoun
Am 14. September verstarb mit Mohammed Arkoun (*1928 – †2010) ein weiterer ehemaliger Meister. Gemeinsam mit Craig Calhoun, Jürgen Osterhammel und Wang Hui leitete der Pionier der modernen Islamwissenschaften die diesjährige Veranstaltung im Juli zum Thema „Clash of Cultures?“ Gebürtig in Nordafrika, studierte und lehrte Arkoun in Paris (Sorbonne). Unter anderem in seinem letzten Buch Islam: To Reform Or To Subvert? (2006) setzte sich Arkoun engagiert mit der Kritik einer islamischen Vernunft auseinander, die sich mit der modernen, globalisierten Welt und der westlichen Wissenschaft konfrontiert sieht. Sein Kernanliegen war es dabei, die islamische Philosophie im Sinne Kants in die Moderne zu überführen.
Wir werden die beiden Meister ihres Faches gebührend in Erinnerung behalten.
Prof. Dr. Bernhard Giesen ist Professor für Makrosoziologie an der Universität Konstanz. Er leitet die Konstanzer Meisterklasse.
Weiterführende Informationen
Werke von und über Shmuel Eisenstadt
Shmuel N. Eisenstadt: Multiple Modernities (1999)
Werke von und über Mohammed Arkoun
Mohammed Arkoun: Lecture (2010)