Universität KonstanzExzellenzcluster: Kulturelle Grundlagen von Integration

Partisanenkampf zwischen nationalem Mythos und politischer Tabuisierung

Konkurrierende Erinnerungskulturen in Litauen, Weißrussland und Russland

Dr. Carmen Scheide

Abstract

Bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion im Dezember 1991 und damit auch bis zum Ende eines von der politischen Führung der Sowjetunion aus gesteuerten Deutungsmonopols über Geschichtsbilder gehörte der Mythos der Partisanenbewegung zum historischen Kanon über den  „Großen Vaterländischen Krieg“ (1941-1945). Wenngleich die Partisanenbewegung auf dem Gebiet der Sowjetunion sehr heterogen und verhältnismäßig klein war, wurde sie als Teil des ganzen Volkes, in Einheit mit Partei und Armee dargestellt. Im Nachhinein blendete die zensierte und einseitige Berichterstattung die verschiedenen Formen des Partisanenkampfes aus, der oftmals weniger politisch motiviert, sondern vor allem eine Überlebensstrategie in Kriegszeiten war. Das propagierte Bild vom angeblichen „Volkskampf“ der Partisanen zeigte vor allem unmissverständlich auf, wer zur „imaginierten Gemeinschaft“ Sowjetunion gehörte und wer davon ausgeschlossen wurde. Erst seit der Perestrojka konnten Gegen-Erinnerungen nach Jahren des Schweigens erzählt und vormalige Tabus benannt werden.

Konkret soll versucht werden, durch einen lebensweltlichen Zugang die Erfahrung von wechselnden Herrschaften seit 1939, damit verbundene Identitätskonstruktionen, Gewalt, Vernichtung und Widerstand exemplarisch für das Gebiet Litauen, nördliches Weißrussland, nordwestliches Russland im Spiegel von Partisanenerinnerungen aufzuarbeiten. In den neu gebildeten Staaten Osteuropas ist seit ihrer Gründung nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 zu beobachten, wie versucht wird, eine nationale Identität durch Geschichte als Instrument der Politik aufzubauen. Litauen, Lettland und Estland verstehen sich als zweifache Opfer der sowjetischen Besatzungen (1939, 1944) und begründen ihren Beitritt zu Nato und EU 2004 auch mit dieser Diktaturerfahrung. Die Aktivitäten litauischer Partisanen bis zu Beginn der 1950er Jahre werden heute als freiheitlicher Widerstand gewertet, während sie in der Sowjetunion als Klassenfeinde oder Diversanten galten. Im Kontext des Diskurses über die Okkupation scheint somit ein neuer Mythos über den antisowjetischen Kampf zu entstehen, der in Konkurrenz zu anderen Geschichtsbildern, etwa dem jüdischen Widerstand, steht. Litauen war bis 1943/44 auch ein Zentrum des Zionismus und seiner verschiedenen Organisationen, die am jüdischen Partisanenkampf in dieser Region beteiligt waren. Entgegen einem weit verbreiteten Bild, Juden seien im Zweiten Weltkrieg wie Schafe zur Schlachtbank geführt worden, begründeten Emigranten in Israel etwa in Form eines Museums der Ghettokämpfer, das 1949 eröffnet wurde, eine Erinnerungstradition an den aktiven Widerstand, die Teil eines vergessenen europäischen Gedächtnisses ist. In Weißrussland fehlt angesichts der vorherrschenden undemokratischen Verhältnisse ein radikaler Bruch mit der sowjetischen Leiterinnerung. Ähnlich wie in Russland lebt der Mythos über den Partisanenkampf als Grundlage nationaler Identität weiter fort und erlebt sogar eine Renaissance. Bis heute besteht das Bild vom Partisanenkampf als Volkskrieg in Weißrussland als Teil des kulturellen Gedächtnisses. 

Die angesprochenen verschiedenen Erinnerungsnarrative beruhen vor allem auf der Kategorie Nation und verlaufen weitgehend getrennt. Diskussionen in der Jüdischen Geschichte über Widerstand, Shoah, Antisemitismus, Zionismus oder Alltagsleben fehlen oftmals in den jeweiligen Nationalgeschichten oder kommen nur als Nebenaspekt vor. Sie scheinen nicht in weißrussische, litauische oder sowjetische Identifikationsangebote, kulturelle Deutungsmuster und gesellschaftliche Normen zu passen, sind aber integrativer Bestandteil der jeweiligen Vorkriegsgesellschaften. Durch die Verschränkung der verschiedenen Sichtweisen können Mechanismen erforscht werden, die zu einer Desintegration von Erinnerungen und den dazugehörigen Gemeinschaften aus kollektiven Leiterinnerungen führen. Daraus leitet sich die Hypothese ab, dass durch heutige öffentliche Debatten über konkurrierende Erinnerungen  in Massenmedien oder Museen kulturelle Grundlagen geschaffen werden, verschiedene historische Narrative durch die Frage nach europäischen Erinnerungskulturen zusammen zu führen.

Die Zielsetzung des Projekts besteht darin, durch die Analyse von Selbstzeugnissen, deren Gemeinsamkeit die Kriegserfahrung im genannten Raum sind, Aufschlüsse über Identitätskonstruktionen und -zuschreibungen, Fremd- und Selbstwahrnehmungen, Erinnerungsmuster und -kulturen zu erhalten. Dabei geht es nicht bloß um ein Zusammendenken geteilter Geschichten, sondern im Sinne von Transnationalität oder histoire croisée darum, wie Handelnde in spezifischen Situationen mit kulturellen Konstrukten umgehen, sie wahrnehmen und ihnen Sinn zuordnen. Da die Dokumente zu verschiedenen Zeiten entstanden sind, kann durch ihre Analyse auch der Wandel von Geschichtsbildern und Kulturverständnis oder Tradierungsformen abgebildet werden.