„Wenn nur fein viel vom Himmel kommt, so ist die Oper schon schön“
Transformationen der Auftrittskultur in der französischen Oper des 17. und 18. Jahrhunderts
Abstract
Das Dissertationsprojekt behandelt am Beispiel der französischen Oper des 17. und 18. Jahrhunderts die Transformation der höfischen in eine bürgerliche Auftrittskultur. In exemplarischen Untersuchungen an Opern Jean-Baptiste Lullys, Jean-Philippe Rameaus und den sogenannten Reformopern Christoph Willibald Glucks soll der Umbau des Opernauftritts in seinen musikalischen, textuellen und dramaturgischen Veränderungsprozessen rekonstruiert werden. Thematisiert werden sollen die Wandlungen eines Formrepertoires, das vor allem im Kontext der höfischen Kultur in hervorragender Weise auftrittsorientiert ist und in der Inszenierung von Auftritten komplexe Verbindungen von Sprache, Tanz, Musik und Gesang entwickelt.
Die Auftrittsformen der französischen Oper, so die Ausgangsthese der Untersuchung, treten in Wechselwirkung mit den Auftrittsformen des absolutistischen Hofes. Sie modellieren den Auftritt in einem hierarchischen zeremoniellen Gefüge und gestalten sich in struktureller Analogie zu anderen höfischen Formen. Dabei konstellieren sie sich um die Person des Königs, dessen Auftritte auch in der Oper zum Maßstab und Orientierungspunkt anderer Auftritte werden. Darüber hinaus geben Opernauftritte im Kontext einer zumeist dynastischen Krisensituation Aufschluss über wechselnde Dramaturgien höfischer Kommunikation, über normative Erscheinungsformen politischer Legitimität, über Auftrittslogiken in Momenten politischer Krisen, über das Verhältnis von Ereignis und Zeremoniell und über die Beschaffenheit höfischer Raumkonzepte.
Die Untersuchung soll mit der exemplarischen Untersuchung der Oper „Alceste ou Le Triomphe d'Alcide“ des Hofkomponisten Ludwigs XIV, Jean-Baptiste Lully (1632-1687) beginnen, damit die musikalisch-dramaturgischen Merkmale eines höfischen Opernauftritts im Kontext des Absolutismus ermittelt und aufgezeigt werden können. Sie erfolgt auch in Hinsicht auf die Opernform der tragédie lyrique, die durch den Agon einer handlungsorientierten und einer festivisch ausgerichteten Dramaturgie geprägt ist und einen Integrationspunkt divergierender Auftrittsmuster bildet. Bei der Bestimmung einer spezifisch absolutistischen, d.h. auf den König fokussierten Auftrittsform sollen hier einerseits die Möglichkeiten einer vertikalen, d.h. einer durch göttliche Interventionen geprägten Auftrittsdramaturgie beschrieben werden, die mittels einer Theatermaschinerie „das Wunderbare“ in Szene setzt und das Auftrittsgeschehen zwischen Himmel, Erde und Unterwelt ansiedelt. Aufschlussreich für den höfischen Kontext ist andererseits das Verhältnis von Gesangs- und Tanzauftritten, die komplexen Interferenzen von stummem und singendem Erscheinen auf der Bühne sowie die musikalischen und tänzerischen Formen und Bewegungen, die diesem Auftreten entsprechen. Ziel ist es, über die Beschreibung dieses Auftrittsrepertoires und seinen Einsatz in den komplexen Handlungsentwürfen der Oper einen Überblick über die höfische Ordnung des Auftritts zu erhalten.
In einem zweiten Schritt sollen in einer Fallstudie zu einer Oper von Rameau (1683-1764) (Zoroastre) Krisensymptome der höfischen Auftrittskultur geortet und das Auftauchen einer neuen und zuletzt klassizistischen Dramaturgie des Auftretens beobachtet werden. An Rameaus Oper Zoroastre lässt sich zeigen, wie der Auftrittsmodus des absolutistischen Herrschers dämonisiert und in die Unterwelt abgedrängt wird, während ein neuer Herrschertypus auf die Bühne tritt. Dieser wird nun an der Figur des Gesetzgebers modelliert, dessen Erscheinen in Widerspruch zu den vertikalen Auftrittslogiken und Auftrittstechniken des Hofes steht. Von hier aus wird es möglich, klassizistische Auftrittsformen von den höfischen abzugrenzen und den Rückbau einer Dramaturgie des Wunderbaren sowie die Horizontalisierung der Auftrittslogik in der bürgerlichen Kultur zu beschreiben. Die Analysen werden dabei stets die verschiedenen medialen Ausformulierungen des Opernentrées berücksichtigen.
Fluchtpunkt der Untersuchung sollen die späten Opern Glucks (1714-1787) (Iphigénie en Tauride, Alceste) sein, die hier ausnahmsweise nicht im Zusammenhang mit der in ihnen nun zur Geltung kommenden bürgerlichen Wirkungsästhetik behandelt werden, sondern in Hinblick auf die dramaturgischen Transformationsprozesse, die ein höfisches Formgefüge für ein neues Publikum adaptieren. Diese gewinnen auch dadurch an Interesse, dass hier nicht nur höfische und klassizistische Form- und Auftrittsdramaturgien, sondern auch die italienische Auftrittsform der Opera Seria integriert und transformiert werden. In entschiedener Weise entwickelt Gluck nun die musikalischen und dramaturgischen Parameter einer bürgerlichen Festlichkeit des Auftretens, in denen die plötzlichen Auftritte des Wunderbaren ebenso überwunden werden wie die choreografischen Auftrittsbedingungen des höfischen Zeremoniells.