Abstract
Die Epistemologie und Genealogie der Sozialwissenschaften hat herausgestellt, dass die Entstehung der quantitativen empirischen Sozialforschung eng mit der Genese gesellschaftlicher Kollektivvorstellungen verknüpft ist. Die Gesellschaften, in denen wir leben, stellen wir uns in Begriffen wie „Durchschnittsalter“, „Ausbildungsstandard“, „mittleres Einkommensniveau“ vor. Darüber ist bisher unbeachtet geblieben, dass auch Kategorien aus der qualitativen Sozialforschung Eingang in die Selbstbeschreibung von Gegenwartsgesellschaften gefunden haben – prominent etwa die Kategorie des „Falls“. Ist unser Verständnis von Gesellschaft durch diese Kategorie nicht ebenso stark geprägt wie durch statistische Vorstellungen? Etwa wenn im politischen, juristischen und administrativen Diskurs von „Härtefällen“ und „Ausnahmefällen“ die Rede ist oder – wie in der sozialen Arbeit, im Gesundheitssystem und in der Bundesagentur für Arbeit – von „Fallmanagement“? Stellen wir uns die Beziehungen zwischen Durchschnitt und Abweichung, zwischen Zentrum und Peripherie und zwischen Regel und Ausnahme in unseren Gesellschaften nicht in Begriffen von „Fall“ vor? Das Forschungsprojekt „Arbeit am Fall“ fragt unter vergleichendem Aspekt nach den wissenschaftlichen Operationen und sozialen Zirkulationsprozessen, die gegenwärtige Wissensgesellschaften zunehmend zu Fallgesellschaften machen.