Universität KonstanzExzellenzcluster: Kulturelle Grundlagen von Integration

Liminale Machtorganisation und ihre millenaristische Eskalation

Prof. Dr. Erhard Schüttpelz

Abstract

Das Konstanzer Forschungsvorhaben steht im Kontext zweier Theorie-Entwicklungen: der universalhistorischen Macht-Theorie von Michael Mann („The Sources of Social Power“) und der anthropologischen Ritualtheorie von Maurice Bloch („Prey into Hunter“).

Michael Manns Vierteilung von Machtquellen und Machtorganisationen in ökonomische, politische, militärische und ideologische Quellen bzw. Organisationen hat bereits stark auf die entsprechende historische Literatur eingewirkt, auch dort, wo diese Wirkung nur verdeckt anerkannt wird (etwa in Christopher Baylys „Geburt der modernen Welt“), und wird auch in ihren theoretischen Grundlagen neu diskutiert („An Anatomy of Power. The Social Theory of Michael Mann“, hg. von J. Hall und R. Schroeder, 2006). Die größten Schwierigkeiten der Kategorisierung bereitet weiterhin die Kategorisierung der „ideologischen“ Machtquelle und ihrer organisatorischen Grundlagen (etwa im Sammelband von Hall/Schroeder, aber auch bei Mann selbst). Aufgrund einer Reihe ethnologischer Erkenntnisse, insbesondere durch Victor Turner Theorie der „Liminalität“ (nach van Gennep), aber auch mithilfe des erwähnten Buchs von Maurice Bloch, scheint es mir sinnvoll, „ideologische“ Machtquellen (im Sinne M. Manns) insgesamt als „liminale“ Machtquellen neu zu bestimmen. Kurz gesagt: „ideologische Machtorganisationen“ (im Sinne M. Manns) sind Organisationen von Liminalität, daher müssen sie zu einem entscheidenden Teil weiterhin „liminale Organisationen“ bleiben, d.h. an der Liminalität partizipieren, die sie durch entsprechende Rituale, Klassifizierungen und Wissensformen organisieren und zu kontrollieren versuchen. Diese Ambivalenz lässt sich nicht auflösen, und sie erklärt zugleich den immer wieder (auch Michael Mann selbst) irritierenden Umstand, dass nur mithilfe „liminaler“ Organisationen Macht quer zu allen Machtverhältnissen, nämlich „aus Ohnmacht“ entstehen kann: aus den Erfahrungen, Umständen und Verallgemeinerungen von Deklassierung, sozialer Marginalität und Entrechtung.

Bereits Victor Turner hatte die ethnologische Theorie der Liminalität (in seinem Buch „The Ritual Process“) eng mit der theoretischen Betrachtung millenaristischer und nativistischer Bewegungen gekoppelt, allerdings ohne die Detailanalyse einer millenaristischen Organisation vorzulegen. Chiliastische Bewegungen (im engeren Sinne: etwa das frühe Christentum, im weiteren: die verschiedenen „Fundamentalismen“ von heute) und viele „nativistische“ Bewegungen (etwa jene Gruppe von Phänomenen, die meist als „Cargo-Kulte“ zusammengefasst werden) versuchen, durch das „Ende der Zeiten“ und ihre „Zeiten-Wende“ nicht nur makrokosmische Schwellen zu definieren und zu organisieren, sondern partizipieren auch durch „mikrokosmische“ Eingriffe offen an der Liminalität, die sie durch ihre Klassifizierungen evozieren und zur Disposition stellen.

Maurice Bloch hat in seinem Buch „Prey into Hunter“ die Frage aufgeworfen, wann und wodurch liminale Erfahrungen und Organisationen sich in gängige biographische Zyklen integrieren lassen, und durch welche Faktoren sie zu einer millenaristischen und ggf. militärisch-terroristischen Eskalation getrieben werden. Seine Antwort blieb offen, aber seine Fall-Analysen lassen sich mit einer mann“schen Machtanalyse „ aber auch mit den religionspolitischen Diagnosen der letzten Jahren „ gut vereinbaren: es ist weniger die „Ideologie“, und nicht einmal der zugrunde liegende oder in Anspruch genommene Ritualismus, der „quietistische“ (bis pazifistische) und „eskalierende“ (bis terroristische) Persönlichkeiten oder Organisationen auseinanderdividiert, sondern die jeweilige historische Konjunktion mit anderen (militärischen, politischen und insbesondere ökonomischen) Machtquellen, die von Mann betonte „Promiskuität“ der Macht. Typologisch angedeutet: Wildbeuter (etwa Amazonas-Indianer) werden sich vermutlich fast immer auf eine „millenaristische Flucht“ begeben, statt die offene Konfrontation mit übermächtigen Gegnern zu suchen; Hirtengesellschaften (wie die Xhosa des 19. Jh.) stehen, in die ökologische und ökonomische Enge getrieben, vor anderen Notwendigkeiten und neigen dann zu einer Eskalation, in deren Verlauf die Doktrin des entsprechenden „Millenarismus“ meist restlos untergeht; melanesische Gartenbaugesellschaften hingegen erheben durch ihre „Cargo-Kulte“ die Forderung jener „Reziprozität“ des Gabentauschs, die allen ihren sozialen und kosmologischen Kategorisierungen zugrunde liegt, und daher kann ein „Cargo-Kult“ einige seiner vorübergehenden politischen Reaktionen und Gegenreaktionen überstehen - diese Typologie wäre möglicherweise mit Michael Mann (auch nach seinen beiden Büchern über Faschismus und Genozid) für die Moderne zu verfeinern.

Das Forschungsprojekt soll sich allerdings nicht nur solchen millenaristischen Konjunktionen (und Eskalationen) widmen, sondern auch jenen stabileren Konjunktionen, in denen die Beziehung von Liminalität und Macht bis in eine mitunter äußerst explizit formulierte Antinomie getrieben wird, etwa in der Stabilisierung des islamischen Sufismus durch „Orden“ und „Bruderschaften“. Und es stellt sich die Frage, ob eine ethnologische, soziologische und historische Kategorisierung die Antinomie von Liminalität und Macht überhaupt expliziter formulieren kann, als dies durch die Akteure (und ihre lokalen Experten) bereits geschieht.