Abstract
Das Forschungsvorhaben zielt auf eine Geschichte der europäischen Städte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Dabei werden die stadtgeschichtlichen Grenzen Europas nicht vorausgesetzt, sondern insbesondere gen Osten und gen Süden zum Gegenstand der Untersuchung gemacht. Thematisch organisieren drei recht abstrakt gefasste Achsen das Material: Zunächst geht es um Fragen der Zentralität und der Zentralörtlichkeit, um Erklärungen also für die stärkere oder schwächere Zusammenballung der Bevölkerung im Raum. Hier gilt es das Missverständnis der Verstädterung als Epiphänomen der Industrialisierung zu überwinden und vor allem die Integration europäischer Städte in globale Netze ernstzunehmen. Methodisch bietet es sich an, neuere Ansätze der Wirtschafts- und Kulturgeographie heranzuziehen. Das ist auch in theoriegeschichtlicher Hinsicht weiterführend, da etwa Saskia Sassens Überlegungen zu den global cities des späten 20. Jahrhunderts implizit an einschlägige Arbeiten Werner Sombarts anknüpfen. Über das für die Phase der ersten Globalisierung von 1850-1914 besonders interessante Phänomen massenhafter Migration ist dieser erste Themenbereich eng mit dem zweiten verknüpft, der Homo- bzw. Heterogenität städtischer Gesellschaften in sozialer, ethnisch-nationaler und vor allem kultureller Hinsicht zum Gegenstand hat. Verschiedene Dimensionen von Marginalisierung und Segregation im städtischen Raum stehen hier im Mittelpunkt. Dabei ist die Wahl einer so abstrakten Analysekategorie wie Homo- bzw. Heterogenität dem Bemühen geschuldet, die nur dem Programm nach gänzlich homogenen Städte des realen Sozialismus mit in die Untersuchung einzubeziehen. Da indessen keineswegs als gegeben angenommen werden darf, dass Städte gleichsam von selbst „Indifferenz gegenüber Differenz“ (Hondrich) ausbilden, fragt die dritte thematische Achse nach den Möglichkeiten ihrer kulturellen Integration und analysiert, unter welchen Bedingungen städtische Gesellschaften Formen von Öffentlichkeit ausprägen, die eine friedliche Verhandlung gegenläufiger Ideen und Interessen erlauben.
Innerhalb dieses Rahmens spielen die Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie sowie ihre Planung eine wichtige Rolle. So ist Stadtplanung, sieht man von dem Sonderfall der wenigen Ideal- oder Planstädte einmal ab, bis ins 20. Jahrhundert hinein fast ausschließlich Stadterweiterungs-, also Peripherieplanung. Die große Ausnahme ist hier Haussmanns Paris, und es bleibt der Frage nachzugehen, was es für die Theoriebildung bedeutet, dass diese sich von Marx über Lefebvre bis Harvey immer wieder auf diesen Ausnahmefall bezogen hat. Typischerweise aber ist vor dem Ersten Weltkrieg die urbane Peripherie in Europa nicht der ungesteuerte Rand sondern der hauptsächliche Gegenstand zumindest der eigentlichen Stadt-Planung. Die Zwischenkriegszeit erlebt diesbezüglich zwei gegenläufige Entwicklungen: Zum einen kommt es mit der zeitlich späteren Urbanisierung Süd- und insbesondere Südosteuropas zu einem Typus städtischer Entwicklung, für den Geographen den Begriff peripherer Verstädterung geprägt haben. Gemeint ist damit, dass an den Rändern Athens, Istanbuls und vieler anderer südeuropäischer Städte Zuwanderer Häuser bauen, die zunächst illegal und ohne infrastrukturelle Anbindung sind. In komplexen politischen Prozessen ringen hier die Bewohner der Peripherie dem Zentrum regelmäßig sowohl die nachträgliche Legalisierung als auch die infrastrukturelle Erschließung ab. Bemerkenswert ist dabei nicht zuletzt, dass trotz des Fehlens übergreifender Planung von Chaos und Slumbildung – anders als am Rand vieler heutiger Megacities – nicht die Rede sein kann, wir es also mit einer ungemein erfolgreichen „dezentrierten Organisationsweise des Sozialen“ zu tun haben. Zum andern erlebt die Zwischenkriegszeit in vielen Metropolen Mittel- und Nordwesteuropas nicht nur den „Aufstand der Vorstädte“, sondern deren Marsch in die städtischen Zentren. Der viel beschriebene Wiener Justizpalastbrand von 1927 ist nur ein Beispiel von vielen, deren noch kaum bekannte räumliche Struktur gerade hinsichtlich gewaltsamer Konflikte zwischen Peripherie und Zentrum vergleichend untersucht werden soll. Den angedeuteten Gegenläufigkeiten zum Trotz bleibt aber die Überplanung der Peripherie bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein das dominante und große Teile Europas formende Modell. Ein Architekt und Stadtplaner wie Ernst May folgt denselben Grundsätzen, wenn er am Rande von Frankfurt Siedlungen des Kleinwohnungsbaus errichtet oder die Stadtstruktur von Magnitogorsk entwirft. Die zugrunde liegende Konzeption der Peripherie als eines Raumes von Trabanten oder Satelliten, die sich um ein Zentrum gruppieren, kehrt noch in der Kriegs- und Nachkriegsplanung der englischen new towns und in der Konzentration des sozialen Wohnungsbaus am Stadtrand wieder. Allenfalls in polyzentrischen Agglomerationsräumen wie der holländischen Randstad, dem Ruhrgebiet oder jetzt auch der österreichisch-slowakisch-ungarischen Grenzregion gibt es von planerischer Seite her Ansätze zur Überwindung einer solch starren Zentrums-Peripherie-Polarität.
Publikationen
Friedrich Lenger: Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850. München: C.H.Beck 2013.
Friedrich Lenger: European cities in the modern era, 1850–1914. Leiden: Brill 2012.