Repräsentationen religiöser Macht
Orakel, sakrale Könige und Kultsklaven im Igboland
Abstract
Mit dem Zerfall staatlicher Institutionen gewinnen (neo)traditionelle Institutionen an Bedeutung. Bei den Igbo im Südosten Nigerias, unter denen ich drei Jahre gelebt habe, ziehen Orakel wieder viele Klienten an, darunter Gouverneure, Minister und reiche Geschäftsleute.
Am Beispiel des Okija-Schreins, der nach einer Polizeirazzia 2004 ins Zentrum öffentlicher Kontroversen geriet, will ich untersuchen, warum Orakel, ähnlich wie ‚traditionelle‘ Herrscher oder Geheimgesellschaften, vermehrt politische Funktionen übernehmen. Um die Attraktivität von Orakeln zu verstehen, empfiehlt es sich, ihre Rolle in vorkolonialer Zeit zu betrachten und sie mit anderen politisch-religiösen Institutionen (in Afrika und Europa) zu vergleichen. Orakel standen in Konkurrenz zueinander und zu anderen religiösen Autoritäten, etwa zu sakralen Königtümern. Wie wurde die Macht spiritueller Wesen repräsentiert, rituell bekräftigt oder eingehegt? Durch welche Eigenschaften konnte das Orakel von Arochukwu, die bedeutendste Kultstätte Westafrikas, über ethnisch-kulturelle Grenzen hinweg wichtige Integrationsleistungen erbringen?
Da in den meisten Regionen Afrikas staatliche Erzwingungsinstanzen fehlten, setzten Konfliktparteien oft religiöse Sanktionsgewalten über sich ein, also Gottheiten, die über die Einhaltung von Gesetzen und Verträgen wachten. Diese third party enforcers agierten auf der Basis von Vertragskonstruktionen, die bis in Details hinein dem entsprachen, was Thomas Hobbes in seinem ‚Leviathan‘ entworfen hat. Die großen, überregional bekannten Orakelgötter, die mit der Ausbreitung des Fernhandels an Ansehen gewannen, waren als völlig unabhängige, souveräne Wesen konzipiert. Von den herbei gereisten Konfliktparteien, die sich dem göttlichen Urteil unterwarfen, wurden sie mit der Macht über Leben und Tod ausgestattet. Gegen ihren Schiedsspruch gab es keinerlei rechtlichen Schutz. Sie waren jeder menschlichen Einflussnahme entzogen, unterstanden also keiner Kontrolle, sondern handelten mit ungehemmter Gewalt. Da sie der Natur näher standen als den Menschen, befanden sich ihre Schreine außerhalb der menschlichen Siedlungen, in einem Stück Wildnis, das als Heiliger Hain und zugleich als forest of evil bezeichnet wurde. Auch in dieser Hinsicht ähnelten Orakelgötter dem sterblichen Gott Leviathan, dem die paradoxe Rolle zufiel, die Gesellschaft zu domestizieren, selbst aber durch keine Macht domestiziert zu sein.
Aus unserer heutigen Sicht wirken Autoritäten, die nicht mit sich verhandeln lassen, sondern eigenmächtig über Menschen richten, bedrohlich und despotisch. Nur gebändigte Macht erscheint erträglich, und vor allem darf sie nicht fremd und dem Willen der Menschen entzogen sein. Aber für die Bürger vorstaatlicher Gesellschaften war die ungezügelte Gewalt der Orakel oft so attraktiv, dass sie keine Kosten scheuten und die gefährliche, oft wochenlange Reise zu den Kultstätten unternahmen, um sich dem Urteil einer fernen Gottheit zu unterwerfen.
Orakel herrschten nicht über ein Territorium, sondern zogen Menschen an, die ihre Konflikte nicht selbst beilegen konnten. Sie waren eine Art Souverän für den Bedarfsfall. Durch den Verzicht auf territoriale Jurisdiktionsansprüche (und auf eine exklusive religiöse Ideologie) konnten sie ungestört mit weitgehend autonomen, lokalen Sanktionsgewalten koexistieren. Diese Eigenschaft dürfte auch für die Zukunft von Vorteil sein. Da in heutigen afrikanischen Gesellschaften eine Vielzahl von Gewaltakteuren aufeinander treffen, mit je eigenen Rechtscodes und spirituellen Schutzmächten, könnten Orakel wieder wichtige Integrationsleistungen erbringen. Vor allem eignen sie sich für multi-ethnische Kontexte, in denen nur wenig Konsens über fundamentale Werte und Rechtsgrundsätze besteht.
Nachdem der Versuch afrikanischer Gesellschaften, sich nach westlichen Modellen zu modernisieren, in eine Sackgasse geführt hat, ist die Zukunft völlig offen. Eignen sich indigene Organisationsstrukturen, die stets mit spirituellen Kräften assoziiert waren, besser als westlich-säkulare Institutionen dazu, afrikanische Eliten populärer Kontrolle zu unterwerfen? Schaffen sie mehr Stabilität als der Versuch, Bevölkerungsgruppen mit starken Traditionen lokaler Autonomie einem einheitlichen, universalistischen Rechtssystem zu unterwerfen? In der Igbo-Region waren sich die Menschen schon in vorkolonialer Zeit der Kontingenz und Fragilität politischer Arrangements bewusst. Ordnungsstrukturen entstanden nicht so sehr durch hoheitliches Handeln, sondern – ähnlich wie in vielen Teilen des heutigen Afrika, unter Bedingungen fragmentierter Staatlichkeit – durch die Kooperation von Gruppen, die ihren je eigenen Rechts- und Moralvorstellungen folgten.
Der Blick auf vorstaatliche Machtstrukturen in Westafrika dürfte auch für Wissenschaftler von Interesse sein, die politisch-religiöse Institutionen und den Aufbau von Zentralgewalten in Europa untersuchen. Wie gestaltete sich religiöse Autorität in Gesellschaften ohne Schriftkultur, in denen Fragen der Orthodoxie und des Glaubens (im Sinnes des Fürwahrhaltens religiöser Lehrsätze) keine Rolle spielten und in denen die Menschen weitgehend frei waren, fremde Riten, Ideen und Organisationsformen aufzugreifen und umzugestalten? Der Blick auf vorkoloniale Repräsentationen religiöser Macht ist auch deshalb für europäische Beobachter interessant, weil die Epochenschwelle zur globalen Moderne in meiner Forschungsregion nicht weit zurückliegt. Noch in den 1970er Jahren konnten sich Informanten im Igboland sehr genau daran erinnern, wie ihre Welt beschaffen war, bevor die ersten Weißen in ihre Siedlung kamen.
Publikationen
Johannes Harnischfeger: Kultsklaven bei den Igbo in Südostnigeria. In: Peter Burschel, Christoph Marx (Hrsg.): Reinheit. Wien: Böhlau , 2011, S. 271-303. (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Anthropologie, 12)