Universität KonstanzExzellenzcluster: Kulturelle Grundlagen von Integration

Gesetze der Gattung

Institutionen kultureller Genealogien

Prof. Dr. Ethel Matala de Mazza

Abstract

Als Regulative kultureller Integration und Desintegration hatten Gattungen in den literatur- und kulturwissenschaftlichen Debatten der letzten Jahrzehnte kaum Konjunktur. Nachdem sie in der (west-)europäischen Literaturgeschichte lange Zeit als normativ gültige Muster gehandelt wurden – als Formen, über deren Reproduktion klassische Regeln der Reinheit und Schicklichkeit wachten –, bekamen sie spätestens im ausgehenden 18. Jahrhundert Konkurrenz durch andere ästhetische Maßstäbe wie den der Genialität. Die Literaturtheorien der jüngeren Zeit relativierten das ‚Muss‘ der Gattungskonventionen von anderer Seite. Als Modelle wurden hier konsequent außerkanonische Formen des Darstellens, Erzählens und Zeigens herangezogen, die wahlweise der Avantgarde oder der traditionellen Volkskultur entlehnt waren (russischer Formalismus), der modernen popular culture entstammten (britische und amerikanische cultural studies) oder aber im weiteren Horizont von Alltagsmythen und Diskursen in Betracht kamen, deren Ordnungen sich weniger über explizit gesetzte Imperative denn über implizit wirksame Normierungen und ästhetische Regime erschließen ließen (Roland Barthes; Michel Foucault).

Inzwischen wurden diese Impulse von zahlreichen Studien aufgenommen, die sich mit der Produktion nomologischen Wissens und seiner Bedeutung für die Selbststeuerung sozialer Gebilde befassten. In welchem Maß etwa sanitäre, klinische und psychologische Normen durch ‚Texte‘ im weitesten Sinn – durch Erzählungen, Bilder und Geständnisrituale – geprägt werden, ist gerade am Beispiel der Humanwissenschaften gezeigt worden, die sich von Anbeginn die Literatur zur Komplizin machten, um ins Innere des Menschen vorzudringen und seine Pathologien zu studieren. Ähnlich enge Verflechtungen treten zutage, wenn man – wie in Deutschland erst ansatzweise geschehen – die Wechselbeziehungen zwischen Literatur und Recht untersucht.

Das Projekt nimmt diese Befunde zum Anlass, um die Frage nach dem Zusammenhang von kultureller Norm und (Text-)Form an die Literatur zurück zu stellen. Im Interesse einer kulturwissenschaftlichen Grundlagenforschung verfolgt es das Ziel, die Funktionsweise der Kategorie „Gattung“ genauer zu erkunden und erstens die „Gesetzeskraft“ (Jacques Derrida) jener Prinzipien, Regeln und Freiheitslizenzen zu sondieren, die Texten zur Auflage gemacht oder im Lauf der Geschichte von ihnen beansprucht worden sind. Zweitens geht es darum, die historischen Modelle, Praktiken und Wege generischer Reproduktion nachzuzeichnen, die durch solche „Gesetze der Gattung“ instituiert und legitimiert, aber auch abgewehrt oder unfreiwillig befördert wurden und je eigene Typen von Genealogien ausbildeten.
Zu prüfen ist dabei nicht zuletzt, inwieweit es analytisch tragfähig ist, Gattungen – im Anschluss an Norman Pearson, Austin Warren und Fredric Jameson – als soziale Institutionen ernst zu nehmen. Der Vorschlag fand hierzulande kaum Resonanz, weil Goethes Diktum von den „Naturformen der Dichtung“ die Abwicklung aller geschichtsphilosophischen Gattungskonzepte überlebt hat und eine Dreifaltigkeit von Epik, Dramatik und Lyrik ansetzt, die der deutschen Literaturwissenschaft bis heute heilig ist. Dabei bietet der institutionentheoretische Ansatz den Vorteil, dass er Gattungskonzepte nicht von vornherein immanent ästhetisch beleuchten muss, sondern das Zusammenspiel von politischen, religiösen, juridischen, wissenschaftlichen und ökonomischen Institutionen in Rechnung stellt, die an der Setzung von Gattungsmaßstäben und -grenzen – durch Tabus und Oktrois, durch Kanonisierungen, Formalisierungen oder den Rechtsschutz von Autonomien – in je verschiedener, historisch zu differenzierender Weise teilhaben. Ein weiterer Vorzug dieses Zugangs könnte sein, das Funktionieren von Gattungskategorien komplexer fassen zu können. Statt thetische Verallgemeinerungen fortschreiben zu müssen – Gattungen seien ‚nur‘ zu beschreiben als nominalistische Artefakte oder als historisch gewachsene „Familien“ –, ließe sich im Zeichen der Institutionalität genauer untersuchen, in welcher Weise gerade Gattungen – durch die Möglichkeit der Koppelung an generische Einteilungen der Biologie oder an Modelle der Geschlechterdifferenz – in Theorie und Praxis dazu genutzt werden, die Grenzen zwischen Natur und Kultur zu modellieren.