Polnische Außenpolitik im 20./21. Jahrhundert
Zum Zusammenhang von Nationsbildungsprozessen, Geschichtskonstruktionen und außenpolitischen Strategien. Teil I: vom I. bis zum II. Weltkrieg (1914-1939)
Prof. Dr. Bianka Pietrow-Ennker
Abstract
Das Projekt will die grundlegenden Strategien der polnischen Außenpolitik von der Staatsgründung 1914 bis 1939 erfassen. Die außenpolitische Strategiebildung ist in systematischen Bezug zu den inneren Nationsbildungsprozessen zu setzen, die der Staat vom I. Weltkrieg an durchlief. In der Forschung werden Nation, Geschichte und polnische Außenpolitik weithin als faktische Gegebenheiten betrachtet und meist ereignisgeschichtlich behandelt. Demgegenüber soll Außenpolitik in enger Verbindung zur polnischen Gesellschaft und inneren Politik betrachtet und in die Diskurse um Nation und Vergangenheit eingebunden werden. Es wird methodisch vorausgesetzt, dass Nation, Geschichtsbilder und Außenpolitik prinzipiell diskursiv ausgehandelt werden. Dabei interessieren die dispositiven Kontexte ebenso wie die sozialen Trägergruppen dieser Diskurse und deren inter- und transnationale Vernetzung. Der kulturalistische Zugang soll innovativ am Beispiel Polens erklären, dass außenpolitische Strategien zwar der Verarbeitung von Anforderungen des internationalen Systems mit dem Ziel der Integration dienen, dass sie zugleich aber stets von inneren Deutungshorizonten geprägt sind, in denen sich maßgeblich Prozesse kollektiver Identitätsbildung zum Zweck der Stabilisierung der (noch ungefestigten) Nation ausdrücken. Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf die äußeren Anforderungen und kann auch zu desintegrativen außenpolitischen Entscheidungen führen, die jedoch im Inneren sozial und politisch stabilisierend wirken.
Die Entwicklung sozialer und politischer Strukturen in Polen wie auch die Verortung dieses Staates im internationalen System wurde im Untersuchungszeitraum von Semantiken begleitet, die keineswegs stabil waren, sondern immer wieder in öffentlichen Kontroversen kulminierten. Dabei ist auffällig, dass prägnante kulturelle Prädispositionen in die Diskurse einflossen, die das nationale Selbstbild, die Geschichte sowie die kollektive Erinnerung zum Gegenstand hatten. Die Nation kann für den gesamten Untersuchungszeitraum als die dominierende imaginäre Integrale und als Bezugspunkt aller Politik betrachtet werden. Die Sinnhaftigkeit des politischen Tuns wurde durch Bezug auf die Nation diskursiv hergestellt, die infolge der Teilungs- und Besatzungszeiten Polens mit einer spezifischen, dominanten Mythenbildung belegt war. Eine diesbezügliche Wissensordnung, die durch unterschiedliche Medien, dabei auch maßgeblich die Geschichtsschreibung und -politik gestützt wurde, kreiste um Begriffe wie Freiheit, Opfer und Widerstand, der sich keine politische Gruppierung bei der Konzeptualisierung von (Außen-)Politik entziehen konnte.
Diese Beobachtung stützt die These der sozialwissenschaftlichen Forschung, dass die Begründung politischer Herrschaft außerpolitischer, kultureller Instanzen bedarf. In Bezug auf die Nation konstruierten die politischen Akteure Polens kollektive Identität vor allem über die Geschichte der Republik (rzeczpospolita) und den Missionsgedanken des Bollwerks gegen den Osten (antemuralis christianitatis). Macht und Herrschaft wurden damit an mythische Ursprungsnarrative zurückgebunden, die Stabilität insbesondere in politischen Krisensituationen verbürgen sollten. So wie Politik und kulturelles Gedächtnis in Polen auf das Engste miteinander verflochten waren, so hingen auch die Konstruktion nationaler Identität und die Entwicklung außenpolitischer Orientierung zusammen, indem diese in den Dienst der Nationsbildung gestellt wurde.
Im Staatsbildungsprozess während des I. Weltkriegs wurde diskursiv und optional an die Traditionen des piastischen Polens sowie der polnisch-litauischen Adelsrepublik angeknüpft, obwohl es auf dem Raum der alten Respublica inzwischen zu unterschiedlichen Nationsbildungs- und Abspaltungsprozessen gekommen war. Waren hegemoniale Semantiken der Teilungsmächte durch radikale Gegennarrative der Polen im Verlauf des I. Weltkriegs im politischen und militärischen Kampf für die Wiedererstehung der Nation überschrieben worden, so verlagerten sich die Spannungen bald nach der Staatsgründung auf einen inneren, nationalistisch aufgeheizten Herrschaftsdiskurs, der das Verhältnis zu den ethnischen Minderheiten und den Nachbarstaaten negativ tangierte. Der Konflikt mit Litauen und mit der Ukraine als Teil der UdSSR sollte ebenso virulent bleiben wie der Konflikt mit Deutschland um eine gemeinsam anerkannte Grenze. Polen ordnete sich durch Orientierung auf die Siegermächte transkulturellen Hierarchien unter, die auf dem Versailler Vertragssystem sowie auf der Völkerbundsidee beruhten. Zugleich förderte der zunehmend ethnozentristisch werdende Staat jedoch auch im Inneren transkulturelle Hierarchien gegenüber nichtpolnischen Ethnien; kulturelle Grenzen durchzogen den Staat, die in Europa z. T. zur negativen Wahrnehmung Polens, transnationalen Versuchen der Instrumentalisierung mangelhaft integrierter Minderheiten und insgesamt zur politischen Destabilisierung nach Innen und Außen führten, noch bevor Polen von Deutschland und der UdSSR im September 1939 angegriffen und zum vierten Mal in seiner Geschichte aufgeteilt wurde.