Universität KonstanzExzellenzcluster: Kulturelle Grundlagen von Integration

Abstract

Beabsichtigt ist eine Monographie zum Thema „Politische Justiz“. Einer der wenigen Versuche, politische Justiz systematisch zu erfassen, ist immer noch O. Kirchheimer, Political Justice. The Use of Legal Procedure for Political Ends, 1961. Das Hauptwerk des deutschen Juristen und Politologen stellt die Frage, was die wirkliche Rolle der Gerichte im politischen Kampf sei. Ausgehend von den Erfahrungen der totalitären Diktaturen, der internationalen Prozesse gegen die Kriegsverbrecher, der Demokratien im Zeitalter des kalten Krieges (insbesondere USA und Deutschland), versucht Kirchheimer einen Katalog möglicher Anlässe zu richterlichen Handlungen im politisch relevanten Feld aufzustellen.

„Wenn gerichtsförmige Verfahren politischen Zwecken dienstbar gemacht werden, sprechen wir von politischer Justiz“. Die Reichweite dieser Definition von Kirchheimer lässt sich aber nicht einwandfrei bestimmen. Im Einzelnen ist es höchst kontrovers, was unter „politisch“ zu verstehen sei, wie sich der Bereich der politischen Justiz sinnvoll eingrenzen lasse und welche Phänomene ihm zuzuordnen seien. In einem engeren Sinn wird die Formel „politische Justiz“ zwar nur bei der Charakterisierung von totalitären Verhältnissen angewandt. Im Verfassungsrecht, wie übrigens auch im Völkerrecht, wird dennoch – laut einer klassischen Lehre – „das Politische selbst“ inhaltlich zum Gegenstand rechtlicher Normierung gemacht. Jedes gerichtliche Verfahren, das diese Bereiche direkt tangiert, ist also dem Risiko und dem Verdacht der „Politisierung“ ausgesetzt.

Gerichte dienen zur Institutionalisierung der Gerechtigkeit, politische Justiz zur Institutionalisierung der Rache. Politische Prozesse sind die Norm in der Geschichte. Grundsätzlich erbringen sie folgende Leistungen:

  1. auf einer instrumentellen Ebene sind sie Teil des Selbstschutzes der Macht,
  2. auf einer symbolischen Ebene dienen sie zur Selbstdarstellung und Selbstbestätigung der Macht,
  3. sie tragen weiter zur Selektion der politischen Elite bei,
  4. sie ermöglichen die Kontrolle derselben, und schließlich
  5. dienen sie zur Bewältigung von Krisen und Skandalen.

Sie ermöglichen also eine gebändigte Form der Konfliktlösung. Im Machtkampf erlaubt die gerichtliche Aburteilung eine scheinbare (und profitable) Legalisierung der politischen Ausschaltung, also eine Rationalisierung des Machtkampfes. Rationalisierung im strategischen Sinne bedeutet:

  1. Zersetzung und Isolierung einzelner Gegner von der organisierten Feindesgruppe,
  2. Trennung der Führer von der Gefolgschaft und Enthauptung der Führerschaft,
  3. Ökonomisierung der Vergeltung,
  4. Sicherung äußerer Fügsamkeit.

Zur Dynamik der Institutionalisierung der Schuld gehört die Konstruktion von Sündenböcken.

In jedem Prozess bildet sich eine Dreier-Konstellation: Anklage-Verteidigung-übergeordneter Dritter. Im politischen Prozess stehen sich nicht nur der Angeklagte und die Justiz gegenüber: Beide befinden sich auf einer großen Bühne und agieren vor den Augen mächtigerer Instanzen wie auch vor einer unübersehbaren Anzahl von Zuschauern. Der Gerichtssaal wird konstruiert als symbolische Größe zwischen Palazzo und Piazza, zwischen dem Ort der arcana imperii und der öffentlichen Meinung. Eine Vierer-Konstellation muss also in der Spezifizität jeder Komponente untersucht werden: Angeklagte, Richter, die das Gericht beeinflussende politische Macht und schließlich die polarisierte Öffentlichkeit. Zentral für die Analyse des politischen Prozesses sind nicht nur die Strategien der Anklage und der Verteidigung, auch nicht einfach die Verhandlungsführung der Richter, zentral sind Natur und Macht der politischen Instanzen und Form und Grad der Politisierung der Öffentlichkeit.

Im Vordergrund der Analyse steht die Erforschung der Ordnungs- und Legitimationsleistungen der Gerichte. Wie weit dürfen Gerichte die Auseinandersetzung mit einer Verbrechensvergangenheit führen? Mit Hilfe welcher Abwehr- und Entlastungsmechanismen können Gerichte eine politische Gemeinschaft vor einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit der Vergangenheit schützen? Dienen politische Prozesse zum Selbstschutz der Demokratie und zur Überwindung ihrer Krisen und Skandale oder gefährden sie vielmehr ihre verfassungsrechtlichen Grundlagen? Wie wirksam war in einer signifikanten Anzahl historischer Fälle die Entlastungsfunktion der Benennung von Sündenböcken (zum Teil auch effektiv Schuldigen) und die Selbstbereinigung des Systems mittels Aufdeckung, Untersuchung und Ahndung bestimmter (und welcher?) kollektiver Verbrechensarten? Mit welchen Kosten für die Institutionen und die politische Kultur eines Landes erfolgt es in heutigen demokratischen Systemen? Wie verträgt sich diese Art Justizialisierung des historischen Geschehens mit der Praxis der Amnestie als Signal einer vergangenheitspolitischen Absolution? Welche unbeabsichtigten Wirkungen werden von politischen Prozessen in krisenträchtigen Phasen des gesellschaftlichen Umbaus gezeitigt?