Zivilisationssemantik und kulturelle Hierarchisierung im 20. Jahrhundert
Vom Primat der „zivilisierten Welt“ zur „Vielfalt der Moderne“
Abstract
„Zivilisation“ war eine der wichtigsten Weltdeutungskategorien des 19. Jahrhunderts – in Europa geprägt, außerhalb Europas übernommen. Der Begriff wurde normativ verwendet: Europäer ordneten sich selbst und den Rest der Welt auf einer Stufenleiter der „Zivilisiertheit“ ein. Die „zivilisierte Welt“, so zerstritten sie im einzelnen auch sein mochte, definierte sich kulturphilosophisch, völkerrechtlich und häufig auch rassenbiologisch als herrschender Eliteklub mit strengen Zugangs- und Ausschlussregeln. Sie ermächtigte sich selbst zu „Zivilisierungsmissionen“ aller Art. An einer strikten Hierarchisierung unter den Gesellschaften und Staaten der Erde wurde in der Mehrheitsmeinung der Epoche kein Zweifel gelassen. Eine solche Denkweise erreichte ihren Höhepunkt in den faschistischen Ideologien vor 1945. Wenige Jahrzehnte später dominierte eine völlig andere Auffassung von internationalen und interkulturellen Beziehungen. Zumindest in der Theorie wurde das Prinzip (das bereits seit 1648 denkbar gewesen war) der Gleichwertigkeit souveräner Staaten zum Kern internationaler Ordnungsentwürfe. Ihm entsprach als zweiter Grundsatz die neue Norm nicht-hierarchischer Verhältnisse zwischen den Kulturen, also „Multikulturalismus“. In der internationalen Praxis hielten sich freilich, manche reale Ungleichheit spiegelnd, hierarchische Vorstellungen. Unter dem Titel der „Entwicklungshilfe“, später der „humanitären Intervention“ leb(t)en ältere Vorstellungen von „Zivilisierungsmission“ modifiziert fort.
Es ist beabsichtigt, diesem Wandel in der Wahrnehmung und Konstruktion internationaler Ordnung während des 20. Jahrhunderts in ideengeschichtlicher Absicht nachzugehen. Damit soll ein Beitrag zur global intellectual history, zur Geschichte des „weltpolitischen Denkens“, zu Frage von Persistenz und Niedergang eurozentrischer Denkweisen und zum Problem der Veränderung dominanter Normvorstellungen geleistet werden.
Das weitere thematische Feld der zu schreibenden Studie umfasst unter anderem folgende Zusammenhänge, die allerdings nicht mit gleicher Tiefe und Ausführlichkeit behandelt werden können. Entscheidungen über Auswahl und Gewichtung werden im Laufe der Arbeit zu treffen sein.
- die Sublimierung der älteren europäischen Idee der Zivilisierungsmission via „colonial development“ zur „Entwicklungshilfe“;
- die Debatte um die Einschätzung der Sowjetunion: Zivilisation neuen Typs oder Rückfall in die „Barbarei“?
- der Diskurs über den „Zivilisationsbruch“ durch staatliche Massengewalt in den 1930er und 1940er Jahren;
- die quasi-geschichtsphilosophische Neu-Kategorisierung der Welt in der soziologischen Modernisierungstheorie und der (frühen) Entwicklungsökonomie des Nachholens und Aufholens;
- die Verrechtlichung der Kategorie „Zivilisation“ im Zuge des internationalen Prestigegewinns der Menschenrechte – bis hin den „zivilisierenden“ Rechtsauflagen, die von der EU heute an den Beitritt der Türkei geknüpft werden;
- die religiös betonte Neuakzentuierung des Zivilisationsbegriffs als westliche Reaktion auf die iranische Revolution von 1979 – mit dem Fluchtpunkt von S.P. Huntingtons clash of civilizations;
- zivilisationsbasierte Deutungsmuster in der Rechtfertigung „humanitärer“ Interventionen;
- die Wiederbelebung eines Zivilisationsdiskurses in der Debatte über „multiple modernities“: Pluralisierung der Diskussion um die Moderne.
Die Außensicht auf Europa ist in einem Ein-Mann-Projekt wie diesem schwieriger zu erfassen als die Vielzahl europäischer Perspektiven, die im Mittelpunkt der Studie stehen werden. Es soll aber versucht werden, dies zumindest von US-amerikanischer, indischer und chinesischer (Hauptautoren: Liang Qichao, Liang Shuming) Warte aus wenigstens unter Berücksichtigung der wichtigsten Quellen und Autoren zu tun. In allen drei nationalen Öffentlichkeiten wurden im Namen der „Zivilisation“ die etablierten politischen und kulturellen Hierarchien in Frage gestellt. Vor allem M.K. („Mahatma“) Gandhi und der indische Literaturnobelpreisträger Rabindranath Tagore wurden mit ihren Ansichten in Europa bekannt und riefen wiederum Kommentare hervor, bei denen es mit bloßer eurozentrischer Überheblichkeit nicht länger getan war. Die Grenzen der „zivilisierten Welt“ wurden umso diffuser, je mehr sich in Ländern wie der Türkei, Japan oder China Spuren eigener „Modernität“ bemerkbar machten.
Sieht man von frühen Ausnahmen wie F. Max Müllers vergleichender Religionsgeschichte oder Max Webers Asienstudien aus den letzten Vorkriegsjahren ab, so waren erst die 1920er Jahre durch eine europäische Wiederentdeckung Asiens charakterisiert. Während die Strukturen kolonialer Herrschaft und imperialer Präponderanz einstweilen intakt blieben und sich an der Anarchie der Staatenwelt bis zur Gründung der UN nichts änderte, zeichnete sich – erstmals seit dem späten 18. Jahrhundert – wieder die Denkmöglichkeit „flacher“ Hierarchien und der gegenseitigen Anerkennung von Geltungsansprüchen unter den Kulturen der Welt ab. Aus dem Exzellenzmonopol der europäischen Musterzivilisation wurde, nicht zuletzt unter Beteiligung der Ethnologie/Anthropologie, die allmählich auf größere Distanz zum Kolonialismus ging, zumindest der beginnenden Tendenz nach eine Pluralität kollektiver Ordnungsentwürfe.