Universität KonstanzExzellenzcluster: Kulturelle Grundlagen von Integration

Kulturelle Geographien diakritischer Praxis

Prof. Dr. Marc Boeckler

Abstract

„Kulturgeographie“ zeigt sich auf die Herausforderung des globalen Zeitalters schlecht vorbereitet. Geographische Zugänge zum Kulturellen waren lange Zeit eingelassen in eine dominante Meta-Narrative „natürlicher Raumordnung“, die von homogenen Kulturen und ihren räumlich abgegrenzten Territorien zu berichten wusste. Empirisch erfahrbare Entterritorialisierungsprozesse in Verbindung mit einem antiessentialistischen „cultural turn“ transformieren diese stillschweigende Hintergrundannahme mit Blick auf kulturelle Integration jedoch in eine problematische Grundkonstellation des Verhältnisses von Kultur und Raum. Mein Beitrag zum Rahmenthema „Kulturalisierung“ des Konstanzer Kollegs versucht zunächst eine kritische Bestandsaufnahme des expliziten wie impliziten Raumbezugs kulturalisierter Gesellschaftsdiagnosen vorzunehmen, aus der zweitens eine eigene Lesart des Kulturellen als diakritische Praxis hervorgehen soll, die drittens an ökonomischen Zusammenhängen auf der Grundlage eigener empirischer Arbeiten exemplifiziert wird.

1) Die Konjunktur des Kulturellen folgt einer bemerkenswerten Polysemie, in der sich mit groben Strichen drei Muster erkennen lassen: Erstens manifestiert sich die Hinwendung zu Kultur in der Adressierung eines modifizierten Hochkulturbegriffs beispielsweise in der Beschäftigung mit „Kulturökonomien“, denen Kreativität und dadurch ein besonderer Beitrag zu wirtschaftlicher Entwicklung zugeschrieben wird. Räumlichkeit taucht hier unhinterfragt als gegebener regionaler Zusammenhang auf, der sich aus der geographischen Nähe spezifischer institutioneller Settings ableitet (=Objektkulturalisierung). Zweitens wird Kultur als Variable in die Analyse regionaler Differenz im essentialistischen Verständnis eingefügt. Für die Erklärung wirtschaftlicher Phänomene, seien es Innovationssysteme, Industriedistrikte, Varieties of Capitalism etc., wird Kultur implizit als homogenes und regionalisiertes Set gesellschaftlicher Handlungsregeln herangezogen (= Faktorkulturalisierung). Als Kritik an einfachen Objekt- und Faktorkulturalisierungen entwirft sich drittens der eigentliche cultural turn, der mit der Einsicht in den kontingenten Charakter gesellschaftlicher Wirklichkeit den Fokus der Analyse von der Beschreibung und Erklärung räumlicher Ordnung zu Fragen nach der Herstellungspraxis dieser Ordnung verschiebt. 

2) Im Anschluss an einen solchermaßen verstanden cultural turn bietet sich eine Konzeptualisierung von Kultur an, welche das abgrenzende Ordnungsprojekt des Kulturbegriffs (Natur/Kultur; Hochkultur/Kulturlosigkeit, Kultur/Kultur) radikalisiert und den kulturellen Beitrag von „Kultur“ in der Grenzziehung selbst sieht, im beständigen und machtvollen Prozess des Unterscheidens, Trennens und Sortierens. Kulturelle Geographien verabschieden sich daher vom Begriff der Kultur und lesen das „Kulturelle“ als diakritische Praxis, wobei „diakritisch“ für den unabschließbaren Prozess der Differenzierung in und durch materiell verwobenes körperliches Tun und Sagen sensibilisiert. Räume und Orte sind dann nicht länger vorgängige Einheiten, an die Kultur angebunden ist, sondern werden in der performativen Praxis der Differenzierung hervorgebracht. 

3) Gegenüber kulturtheoretischen Zugriffen besonders widerständig zeigt sich insbesondere die Ökonomie als Disziplin und Gegenstand. Dies ist deswegen paradox, weil es sich bei der neoklassisch verfahrenden Ökonomik um eines der wirkmächtigsten Projekte kultureller Modellierung von Gesellschaft handelt. In der Zusammenschau eigener empirischer Arbeiten ergibt sich das Bild einer globalen „Geographie der Ver-Marktung“, ein vieldimensionaler, sozio-technisch distribuierter Übersetzungsprozess (Rekonfiguration von Menschen und Dingen, Ansprüchen, Argumenten und Legitimitäten) mit dem die gesellschaftliche Wirklichkeit jenen Laborbedingungen angepasst wird, unter denen marktradikale Modelle abstrakter Ökonomik funktionieren können. Am Beispiel der Weltmarktintegration ghanaischer Kleinbauern, angeleitet durch internationale Entwicklungszusammenarbeit unter dem Label der Förderung von Wertschöpfungsketten, werden erstens textanalytisch Muster der Herstellung marktferner Räume durch diskursive Ausgrenzungen und zweitens die sich daran anschließenden konkreten Praktiken der Inklusion rekonstruiert – mit besonderem Fokus auf die eingesetzten legitimierenden normativen Modelle sowie grenzverschiebenden Instrumente, Techniken und Materialien. Drittens werden problematische Figurationen der Marktintegration als kultureller Zwischenraum angesprochen, der von neuen Sprachen, Symbolen und Legitimationen aufgespannt wird.