Universität KonstanzExzellenzcluster: Kulturelle Grundlagen von Integration

Nichtwissen

In das Konstanzer Kulturwissenschaftliche Kolleg soll für das akademische Jahr 2011/2012 eine Gruppe von Fellows eingeladen werden, die sich mit dem Zusammenhang zwischen Nichtwissen und Integration/Desintegration beschäftigen wollen und entsprechend ausgewiesen sind.

Wissensgesellschaft vs. Nichtwissensgesellschaft

Nach einer gängigen Selbstbeschreibungsformel stellen sich moderne Gesellschaften heute als Wissensgesellschaften dar. Dabei wird Wissen in der Tradition der Aufklärung als wertvolle, zu mehrende Ressource begriffen, während Unwissen als unproduktiv und schädlich erscheint. Diese Sichtweise findet sich jedoch mit einer wachsenden Zahl von Problemen ganz unterschiedlicher Art konfrontiert. Zum einen stellt sich angesichts perfektionierter Informations- und Überwachungstechnologien immer dringlicher die Frage nach einem Recht auf passives und aktives Nichtwissen (Datenschutz, Videoüberwachung, Kundenprofile, Gen-Screening, medizinische Prognostik etc.). Zum anderen haben moderne Gesellschaften mit dem paradoxen Effekt zu kämpfen, dass sozial produzierte Ungewissheit, etwa im Bereich von Risikotechnologien, eine Folgeerscheinung der rasanten Entwicklung der Wissenschaft ist. Der Zuwachs an Wissen treibt Nichtwissen in einem existentiell bedrohlichen Ausmaß hervor. Deshalb ist inzwischen, in einer ironischen Umkehrung, von unserer Gesellschaft als einer Nichtwissensgesellschaft die Rede (Ulrich Beck). Aus dieser zweiten Diagnose folgt, dass man sich gerade im Zeitalter wissensintensiver Technologien auf ein irreduzibles, persistentes Nichtwissen einstellen muss, das neue Formen eines kognitiven und institutionellen Umgangs mit den nicht absehbaren Folgen von wissenschaftlichem Fortschritt notwendig macht. Ausschlaggebend ist dann, wie systemisches Nichtwissen bewältigt und in gleichwohl entscheidungsfähige Konstellationen überführt werden kann. Nicht zuletzt die Universitäten als Zentren der Wissensproduktion stehen deshalb vor der Notwendigkeit, ihre epistemologischen Prämissen einer Revision zu unterziehen.

Kulturelle Praxen des Nichtwissens

Einen aus kulturwissenschaftlicher Sicht naheliegenden Zugang zu dieser Problematik bietet die Analyse kultureller Praxen des Nichtwissens, wie sie in vielen, wenn nicht sogar in allen menschlichen Gesellschaften geübt werden. In einem ersten typologischen Aufriss sind hierbei sozial relevantes von sozial irrelevantem Nichtwissen, ‚wissentliches‘ von ‚unwissentlichem‘ Nichtwissen (paradoxe Kombinationen, denen man unweigerlich und in den verschiedensten Abstufungen begegnet), schlichte Ignoranz von fiktivem oder ‚gespieltem‘ Nichtwissen zu unterscheiden. Überdies muss in allen Fällen dem intrikaten Verhältnis zwischen Nichtwissen und Schweigen, Unaussprechlichem und Unausgesprochenem Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Geht man statt von einer solchen Typologie von dem Aspekt der sozialen Ordnungsbildung aus, dann drängt sich eine Unterteilung in drei strategische Dispositionen auf:

  1. kulturelle Verfahren, um Zustände des Nichtwissens zu überwinden (Traumdeutung, Prophetie, Wahrsagen, Forschen);
  2. Verfahren, durch die Nichtwissen in Kommunikation codiert wird, um es auf die gleiche Art wie Wissen anschlussfähig zu machen (Vertrauen, Glauben, Strategien der Entscheidungsvereinfachung im Stil des sogenannten satisficing, Wahrscheinlichkeit, Risikokalkulation); und schließlich
  3. Verfahren, die soziale Figurationen durch Nichtwissen stabilisieren (Takt, Geheimnis, Latenz).

Normative und funktionale Begründungen des Nichtwissens

Schon diese provisorische Übersicht zeigt, dass Wissen und Wissenwollen einerseits, Nichtwissen und Nichtwissenwollen andererseits in vielfältigen kulturellen Verhaltenscodes und fein segmentierten Normen sozial verankert sind. Das Problem steckt nicht in der Existenz von Normen sowohl für Wissen wie für Nichtwissen, sondern in ihrer Interferenz.Hier entstehen Ambivalenzen, also Bewertungsunsicherheiten, die gesellschaftliche Diskurse auf eine Weise prägen, die so gut wie unerforscht ist. Es gibt normative und funktionale Begründungen für Nichtwissen, die jeweils ihr Gegenstück in Normen des Dennoch- oder Erst-Recht-Wissen-Wollens haben.

Normative Begründungen des Nichtwissens sind uns geläufig beim Schutz der Grundrechte, bei der Gewährleistung von Sicherheit und beim Schutz geistigen Eigentums. Beispiele sind das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, das Folterverbot bei der Strafverfolgung, das Recht auf Nichtwissen im Rahmen der Gendiagnostik, der Geheimschutz, das Aktengeheimnis, das Steuergeheimnis, das Arkanum der Regierungstätigkeit, die sachliche und zeitgebundene Beschränkung des Zugangs zu Archivmaterial oder der Schutz geistigen Eigentums durch Patente und Copyrights.

Kaum eines dieser Prinzipien ist unumstritten, manche sind im öffentlichen Diskurs schlicht umkehrbar. Gegen den Geheimschutz, das Aktengeheimnis oder die Beschränkung des Zugangs zu Archivmaterial werden das demokratische Transparenzgebot, das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit und die Notwendigkeit der Kontrolle des Staates angeführt. Gegen die rechtliche Eindämmung der Wissensverbreitung durch Patente, Copyrights und die Regulierung des Internets wenden sich mittlerweile groß angelegte Kampagnen, die auf die unmoralischen Wirkung von Patenten im Fall der Bekämpfung epidemischer Krankheiten (etwa HIV/AIDS), die Gefahr einer Re-Privatisierung ehemals öffentlicher Wissensbestände (etwa durch das online-Zeitschriftenangebot wissenschaftlicher Bibliotheken) oder die undemokratischen Wirkungen einer Beschränkung des Informationszugangs im Internet aufmerksam machen. Funktionale Begründungen des Nichtwissens kennen wir aus der Institutionentheorie, der Organisationstheorie und der Psychologie. Institutionalisierungseffekte beruhen auf dem Selbstverständlichwerden des Nicht-Selbstverständlichen und insofern auf der billigenden Inkaufnahme des Nichtwissens über Alternativen. Arnold Gehlen spricht vom Effekt der „Entlastung“und der unhinterfragten „Hintergrunderfüllung“ und ihrem Beitrag zur Entstehung und Stabilisierung von Institutionen. Verwandt ist der Gedanke der Komplexitätsreduktion, wie er insbesondere durch Herbert A. Simon und das Konzept der begrenzten Rationalität (bounded rationality) des Organisationsverhaltens (organizational behavior) geprägt wurde. Organisationen steuern Simon zufolge das Verhalten ihrer Mitglieder nicht in erster Linie durch hierarchische oder explizit regelgebundene Kontrolle, sondern durch die Kontrolle von Prämissen, die das Wissen und Wissen-Wollen in Organisationen von vornherein auf schmale Korridore eingrenzt. Einen elementaren psychologischen Mechanismus des gewollten oder hingenommenen Nichtwissens umschreibt Leon Festingers Theorem der kognitiven Dissonanzen: Inkonsistenzen zwischen Handlungsnormen und tatsächlichem Handeln veranlassen dazu, sie durch intendiertes Nichtwissen in Form kontrafaktischer Leugnung oder Umdeutung zu überbrücken. Welche paradoxen Effekte das ‚Management’ von Nichtwissen in politischen Organisationen zeitigt, lässt sich an Mechanismen des successful failure vor Augen führen – eines auf erwünschte Weise ergebnislosen Handelns, das von weiterer Verantwortlichkeit entlastet (W. Seibel).

Gerade die funktionalen Begründungen des Nichtwissens werden in pragmatischer wie ethischer Hinsicht kritisch diskutiert. Die Entlastungseffekte von Institutionen und die Komplexitätsreduktion durch Organisationsstrukturen erscheinen unter pragmatischem Blickwinkel als Kontrollrisiko, Übersteuerung oder verminderte Lernfähigkeit. In der einschlägigen Literatur lauten die Stichworte Betriebsblindheit, Kosten der Routine oder Stabilisierung gegebener Machtverhältnisse (Karl W. Deutsch: „Power is the ability to afford not to learn.“). Ethisch motivierte Kritik rückt vor allem die psychologischen Effekte der Institutionalisierung in den Blick, die das Nicht-Selbstverständliche, ja Monströse als selbstverständlich erscheinen lassen (Zygmunt Baumann, Modernity and the Holocaust, 1989).

Kaum anders als durch diese gegenläufigen Auffassungen sind die mitunter erratisch anmutenden Preisungen bzw. Skandalisierungen von Wissen und Nichtwissen zu erklären. Beispiele finden sich in den täglichen Nachrichten: So wird das im deutschen Gendiagnostikgesetz von 2009 verankerte Recht auf Ignoranz möglicher Erbschäden und ihrer Folgen als bedeutender ethischer Fortschritt gewürdigt. Auf anderen Gebieten dagegen wird Nichtwissenwollen als schwere ethische Verfehlung gewertet – etwa im Hinblick auf den notorischen sexuellen Missbrauch in katholischen Erziehungseinrichtungen. Einerseits wird der Wissensanspruch des Staates bei privaten Bankdaten zur Bekämpfung schwerer Kriminalität – beispielsweise bei der Übertragung von EU-Bankdaten an die USA – zurückgewiesen (in diesem Fall durch das Europäische Parlament). Andererseits wird zur Erfüllung des Wissensanspruchs des Staates bei privaten Bankdaten zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung die Inanspruchnahme krimineller Datenvermittler in Kauf genommen.

Nichtwissen und soziale Integration

Die zuletzt genannten Beispiele deuten darauf hin, dass auch heutige Gesellschaften den Imperativ der Wissensmehrung äußerst flexibel handhaben und sich dabei das auf den ersten Blick kontraevident scheinende Phänomen einer kulturellen Funktionalität des Nichtwissens zunutze machen. Wann für Nicht-Kenntnisnahme oder kollektive Leugnung optiert wird und wann umgekehrt Schweigekonventionen durchbrochen werden – durch verabredete Regeländerung oder in krisenhafter Form –, ist von den jeweiligen Macht- und Interessenverhältnissen abhängig.

Verallgemeinernd jedoch lässt sich sagen, dass die Funktionalität kollektiven Nichtwissens in engem Zusammenhang mit der Art und Weise steht, in der Gesellschaften sich des Fortbestands ihrer Ordnungsstrukturen versichern. Keineswegs geschieht dies bevorzugt durch ungehindertes Zirkulierenlassen von Information. Man kann im Gegenteil die Hypothese aufstellen,dass viele Praxen des Nichtwissens soziale Integration stärken und Desintegration verhindern. (Dabei darf Integration allerdings nicht einseitig als positiver Wert angesetzt und gegenüber Desintegration privilegiert werden – auch kriminelle Geheimorganisationen sind unter Umständen in hohem Maß integriert.)

Unter funktionalem Aspekt vergleichsweise gut erforscht ist die Form des vorenthaltenen Wissens. Schon Georg Simmel hat deutlich gemacht, dass soziale Beziehung nicht nur Bekanntschaft, sondern auch ein gewisses Maß an gegenseitiger Verborgenheit braucht. Machtasymmetrien gehen regelmäßig mit der Ungleichverteilung von Wissen einher. Grundsätzlich gilt, dass gesellschaftliche Differenzierung mit der Erzeugung und Stabilisierung kommunikativer Grenzen einhergeht, die immer auch Grenzen des geteilten Wissens sind.

In ähnlicher Weise hängt die Stabilität gesellschaftlicher Normen von kollektiv organisiertem Nichtwissen ab. So hat nach Heinrich Popitz die Dunkelziffer im Bereich der Verbrechensbekämpfung insofern eine Präventivwirkung, als sie den Sanktionsapparat vor Überlastung schützt. Ein vollständiges Wissen über den Gesamtumfang der Normverstöße würde zudem die Geltung der Norm in Frage stellen. Häufig dient Nichtwissen, auch vorgetäuschtes, dazu, das Manifestwerden von Normenkonflikten zu verhindern. In der Vielfalt ihrer Lebensbezüge sind Akteure oft unvereinbaren Regeln verpflichtet, denen sie nur dann gleichzeitig Folge leisten können, wenn sie von deren sprachlicher Explikation oder gar schriftlicher Fixierung absehen. Eine geregelte Form von Nichtwissen lässt elastisches Verhalten, ja sogar sozial unvermeidliche Rolleninkohärenz zu, ohne dass dies gleich als manifester Widerspruch verhandelt werden müsste. Informelle Sozialregeln, die nur schwach artikuliert sind, scheinen einen solchen Latenzschutz in besonderem Maß zu genießen. Auch Verbote werden auf diese Weise vor ihrer diskursiven Verhandlung geschützt. Tabus reduzieren den Aufwand an expliziten Regelungen und verhindern Auseinandersetzungen und Konflikte. Dabei wird häufig noch das Tabu selbst tabuisiert und mit einer Aura sprachlicher Scheu und entsprechender ‘Wissensvermeidung’ umgeben.

Bei all dem steht außer Frage, dass kollektiv stabilisiertes Nichtwissen katastrophische Wirkungen zeitigen kann, entweder weil es gesellschaftliche Selbstreinigungsprozesse verhindert oder weil deshalb notwendige Umweltanpassungen unterbleiben. Systemkrisen wie der Beinahe-Zusammenbruch des Weltfinanzsystems 2008 sind Beispiele dafür, wie Funktionssysteme sich selbst durch aggregiertes Nichtwissen (etwa in Form von Finanzderivaten) in den Kollaps führen.

Koexistenz von Wissen und Nichtwissen

Ein besonders interessantes Untersuchungsobjekt in dem skizzierten Forschungsfeld sind diejenigen Situationen, in denen die kollektiv aufgerichtete Barriere des Nichtwissens durchbrochen wird. Für einen solchen ‚Durchstich‘ durch die Schweigemembran stehen vor allem zwei Skripte zur Verfügung: Erstens in der Form des Skandals als derjenigen Ereignisform, in der eine Gesellschaft auf das reagiert, was sie latent immer schon weiß und nun vorübergehend nicht mehr mit Stillschweigen zudecken kann. Zweitens in gewissen Ritualen des kollektiven Gedenkens, in denen eine soziale Gruppe sich vergegenwärtigt, was ohne rituelle Rahmung Verlegenheit oder andere Formen des Meidungsverhaltens auslösen würde. Ein solches Ritual stellt etwa der Gottesdienst dar, in dem alle moralischen, karitativen, humanitären Defizite, die sich durch die Pfadabhängigkeit menschlichen Verhaltens und Denkens innerhalb der verschiedenen Alltagsrationalitäten ergeben, beim Namen genannt und rituell beklagt werden.Das Beispiel zeigt, dass Gesellschaften über alle Parzellierungen hinaus übergreifende Wahrheitssemantiken pflegen, dass sie die Widerlegung ihrer bounded rationalities stets mit sich führen und bis zu einem gewissen Grad aktiv halten. Sie messen sich an einer Moral, die unter den Milieubedingungen täglichen Handelns nicht erfüllt werden kann, und halten dadurch jene Bedingungen immer in einem Zustand abstrakter Mangelhaftigkeit, die indessen bei gegebenem Anlass durchaus konkretisiert und sozial folgenreich gemacht werden kann – etwa zu Zwecken der Schuldzuschreibung in Krisenzeiten. Überhaupt verfügen komplexe Gesellschaften über eine Vielzahl von Möglichkeiten, unterschiedliche Aggregatzustände von Wissen und Nichtwissen nebeneinander zu bewirtschaften. So lassen sich sogar einander widersprechende Wahrheiten gleichzeitig im Umlauf halten, weil sie sozusagen auf verschiedenen Frequenzen kommuniziert werden, die durch unsichtbare kommunikative Hürden voneinander getrennt bleiben.

Publikationen

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Peter Wehling (Hg.): Vom Nutzen des Nichtwissens. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld: Transcript 2015.

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Roy Dilley, Thomas G. Kirsch (Hg.): Regimes of Ignorance. Anthropological Perspectives on the Production and Reproduction of Non-Knowledge. New York/Oxford: Berghahn 2015.

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Marcus Twellmann (Hg.): Nichtwissen als Ressource. Baden-Baden: Nomos, 2014.

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Birger P. Priddat, Alihan Kabalak: Ungewissheit als Herausforderung für die ökonomische Theorie. Nichtwissen, Ambivalenz und Entscheidung: Konstanzer Beiträge zum Nichtwissen in der Ökonomie, 1. Marburg: Metropolis, 2013.