Abstract
In der medialen Debatte um die Hirnforschung geht die Maxime des Neurokonstruktivismus um: Sie scheint dem Neuroreduktionismus zu wehren und die Öffnung der Hirnforschung für Kultur und kulturwissenschaftliche Perspektiven zu versprechen. Tatsächlich aber wird, wie am Beispiel von Debatten um die Interventionschancen von Neurotechnologien aller Art erhellt, die behauptete Wechselwirkung von Hirn und Kultur in einem sehr spezifischen Sinn erläutert. Ob Neurobics, Neuroprothetik, Neuropädagogik, kosmetische Psychopharmakologie, etc., die stereotype Argumentation lautet stets: Da einerseits Hirnbedingungen die Leistungsfähigkeit einer Person bestimmten, andererseits anregende Umgebungsbedingungen die Hirnentwicklung begünstigten, folge daraus die Chance und Notwendigkeit, günstige Umgebungsbedingungen für die Hirnentwicklung zu schaffen. Ich werde der Behauptung nachgehen, dass sich dieser von anwendungsorientierten Neurowissenschaftlern betriebene und von ‚modernisierungswilligen‘ sozialwissenschaftlichen Disziplinen und Professionen rezipierte Neurokonstruktivismus jedoch weniger als Resultat eines (verdeckten) Neuroreduktionismus, sondern vielmehr als Effekt eines neurokulturellen Ko-Konstruktivismus verstehen lässt.
Bei näherem Hinsehen tritt nämlich eine neurowissenschaftliche Neubeschreibung von Kultur hervor. Die Neurotechnologien verweben sich nämlich mit Überzeugungen und Praktiken, die die Semantik des Kulturellen selbst affizieren. In ihr figuriert Kultur einerseits als Ressource neurotechnologischer Selbsteinwirkungskompetenz (z.B. neuroprothetisch); andererseits als sozialitätsstiftendes Resultat (die ‚hirngerecht gestaltete‘ Kultur). Dies beeinflusst auch die Kulturwissenschaften: entweder, indem ihnen einheitswissenschaftliche Avancen gemacht werden (z.B. durch Wolf Singer), oder indem sie selbst going neuro praktizieren (z.B. Neuroanthropologie).
Anhand ganz verschiedener Neurotechnologien (u.a. deep brain stimulation, Neurodidaktik, cognitive enhancement) wird zunächst die neurokulturelle Semantik in ihren wichtigsten (bild-)diskursiven Dimensionen analysiert. Sodann wird die Vermutung geprüft, dass sie als Effekt und Vehikel eines spezifischen Arrangements von Individuum und Gesellschaft zu deuten ist, genauer: als ein Arrangement neosozial agierender Individuen in postsozialer Gesellschaft.
Was Neosozialität betrifft, so ist die Idee, dass der postulierte Zusammenhang von Kulturstimulus und Hirnaktivität (und vice versa) auf individuelle Leistungssteigerungen abzielen, sei es trainierend, therapierend oder optimierend. Dies geschieht zwar stets unter Berufung auf Selbstbestimmung und Wahlfreiheit des sich selbst regulierungsfähigen, aber auch –bedürftigen Selbst. Dieses ‚Optimierungsmotiv’ ist jedoch ko-extensiv mit einem ‚Gemeinwohlmotiv’, geht es doch darum, der Gesellschaft Kosten und Risiken durch nicht-gesellschaftsfähige Individuen zu ersparen. Eben dies beschreibt die sich optimierenden Individuen als neosozial. Neosozial agierende Individuen ereignen sich indessen in einer Gesellschaft, der zugleich auch Postsozialität bescheinigt wird: Sozialität vollzieht sich dieser Beschreibung nach zunehmend durch Objekte und mehr noch, mit Objekten. Auch die optimierende Regulierung seiner Selbst geschieht vermehrt durch den Einsatz aller verfügbaren (Neuro-)Technologien und die Interaktion mit ihnen – z.B. in der Interaktion mit neurowissenschaftlich orientierten Lebenshilferatgebern.
Die erstaunliche Intelligibilität und Akzeptabilität invasiver wie nicht-invasiver neurotechnologischer Aktivitäten ist aus dieser Perspektive der Effekt des Zusammenwirkens beider Motive (Optimierungs- und Gemeinwohlmotiv) und beider rezenter Sozialitätsvarianten (neo- und postsozial). Es mehren sich indessen Hinweise für etwas, das sich Neurokulturalität nennen liesse: Es beschreibt nicht nur die sich soeben herausbildende Assemblage neurowissenschaftlich informierte Selbsteinwirkungskompetenz, sondern auch eine hybrid verfasste Selbsteinwirkungskultur, die neurowissenschaftliche Befunde und Visionen allererst und derart vielfältig rezipierbar macht.
Darüber hinaus wäre zu überlegen, ob der Vorstellung eines neurokulturellen Ko-Konstruktivismus jenseits neosozialer Anrufung, postsozialer Evidenz und neurofundamentalistischer Einheitssemantik etwas abzugewinnen ist, wenn man dieses Konzept aus gesellschaftswissenschaftlicher Perspektive entwickelt. Aus einer solchen Warte erscheint es jedenfalls verkürzt, sich allein auf die Folgen des neuen sozio-technischen Wissensregimes namens ‚Neurotechnologie’ zu beschränken, und sodann allseits Heteronomie in der Selbstführung und die Ersetzung von ‚Gesellschaft‘ durch ‚Sozialtechnologie‘ zu erkennen. Demgegenüber wäre die Positivität dessen zu beschreiben, wie die Neurowissenschaften und ihre Technologien gegenwärtig die Artikulations- und Reproduktionsbedingungen für Subjektivierung und Gesellschaftlichkeit modulieren.