Glückswissen
Zur Geschichte einer Reflexionsform gelingender Integration im 20. Jahrhundert
Abstract
Seit den 1980er Jahren nimmt die Vielfalt der Publikationen zum Themenfeld Glück, Well-being, Pleasure, Life satisfaction und Quality of Life sprunghaft zu. Obgleich die Begriffe vielfach synonym verwendet werden, beschreiben sie doch unterschiedliche Facetten, indem sie ältere, primär philosophisch-ideengeschichtliche Vorstellungen von Glück – etwa im Sinne der aristotelischen Eudaimonia – sozialwissenschaftlich wenden und forschungsstrategisch operationalisierbar machen. Diese unterschiedlichen semantischen Nuancen weisen bereits auf die unterschiedlichen medialen Genres und sozialen Wirkungsfelder der Glücksreflexion hin. Zugleich spiegeln sie die Pluralität ihrer Erkenntnisanspüche, spezifischen Hervorbringungsweisen und argumentativen Logiken wider. Mit der Vielzahl der Wissensordnungen korrespondiert eine gewisse terminologische Überfrachtung, um nicht zu sagen Überreizung der zentralen Begriffe Glück und Well-being, so dass Aussagen über „das Glück“ oder das „Glück an sich“ eigentlich kaum mehr zu treffen sind.
Aus diesem Grund möchte das Forschungsprojekt „Glückwissen. Zur Geschichte einer Reflexionsform gelingender Integration im 20. Jahrhundert“ im Rahmen des Exzellenzclusters dazu beitragen, ausgewählte Konzepte individuellen und kollektiven Glücks zu historisieren, indem insbesondere die intellektuellen, sozialen und medialen Konstellationen ihrer Emergenz rekonstruiert werden. In Ergänzung zu, aber auch in deutlicher konzeptioneller Abwendung von einer klassischen Ideengeschichte menschlicher Glücksentwürfe, die bei den Anfängen der Glücksreflexion in der Antike einsetzen und wirkmächtige Traditionslinien eines Nachdenkens über das Glück von Aristoteles bis hin zur Gegenwart abschreiten, sollen wissens- und sozialgeschichtliche Anliegen zusammengeführt werden. Gerade im 20. Jahrhundert nämlich hat die disziplinenübergreifende Debatte um Zugriffsweisen, die das Untersuchungsfeld „Glück“ in gewisser Weise erst konstituieren, erheblich an Fahrt aufgenommen und eine ganz eigene Dynamik entfaltet, der das Projekt nachspüren will. Waren es bis ins 19. Jahrhundert hinein zumeist Philosophie und Theologie, die über Formate des ge-lingenden, guten Lebens nachsannen, so fand das Glück als Gegenstand wissenschaftlicher Analysen nun sukzessive Eingang in verschiedenartige weitere Disziplinen. Zusehends avancierten die Variationen der Glücksreflexion zu einer Art Gravitationsfeld, aus dem heraus eine sich zunehmend als neu- und andersartig beschreibende „westliche“ Moderne über sich selbst zu verständigen begann, wie insbesondere der in St. Gallen lehrende Philosoph Dieter Thomä nachgezeichnet hat. Zeittypische Vorstellungen eines im emphatischen Sinne gelingenden menschlichen Lebens sollen in dem Projekt „Glückswissen“ ebenso untersucht werden wie Formationen des Wandels seit den 1930er Jahren. Nationale Spezifika nicht ausblendend, setzt das Projekt dennoch eher transfergeschichtlich bzw. analog zu einer „entangled history“ an, um auf diese Weise transnationale Konvergenzen im angloamerikanischen und kontinentaleuropäischen Raum höher gewichten zu können als nationale Sonderentwicklungen.
Dies beherzigend, soll danach gefragt werden, in welchen konkreten Situationen Glück als reflexive Kategorie überhaupt relevant wurde: Lassen sich besondere soziale, politische oder kulturelle Formationen benennen, in denen Visionen eines gelingenden Lebens zu einem Instrument der Gesellschaftsanalyse und -kritik avancierten? Welche Facetten individuellen bzw. kollektiven Glücks wurden dabei aufgerufen? Wo und wie bildeten sich Netzwerke bzw. einflussreiche Traditionslinien und Diskursfelder der Glücksreflexion heraus? Auf eine traditionelle Unterscheidung zwischen wissenschaftsinternen und -externen Zugriffsweisen soll dabei bewusst verzichtet werden, denn erst so lassen sich Emergenzen, Variationen und Kombinationen der Glücksreflexion in den Vordergrund rücken.
Ansätze der Wissenschaftsforschung und -geschichte (exemplarisch etwa Bruno Latour, Michael Hagner oder Karin Knorr Cetina) aufgreifend, will das Projekt also spezifische Logiken bzw. Praktiken der Generierung von „Glückswissen“ rekonstruieren. Im Zuge eines „practical turn“ innerhalb der Wissenschaftsgeschichte hat sich das Interesse der Forschung zunehmend der Analyse von Erkenntnisvollzügen zugewandt. Indem der Frage nachgegangen wird, welche Rolle Instrumente, Objekte oder Visualisierungsstrategien innerhalb des Prozesses der Wissensgenerierung einnehmen, können diese als relevante Faktoren der Wissensproduktion und -vermittlung aus dem Schatten großer Wissenschaftsakteure treten, deren Prominenz umgekehrt als Resultat von Konstruktionsweisen hervortritt, was insbesondere im Falle der Glücksforschung relevant sein wird. Glück nämlich, so steht zu vermuten, lässt sich in seinem kategorialen Schillern disziplinär nur schwer bändigen. Anders als auf anderen Wissensfeldern, in denen Quantifizierung gerade die Tilgung persönlicher Involviertheit erbringen soll, lässt sich im Falle der Glücksforschung eine eigentümliche, noch unerforschte Rekombination von Zahlenwissen und subjektiven Einstellungen der Forschenden finden.
Diesem Ausgangsbefund soll, gerade im Blick auf eine beabsichtigte stärkere Zusammenführung von Wissens- und Sozialgeschichte, genauer nachgegangen werden, auch um die integrative Spezifik von Glückswissen auszumachen, das sich nicht in einer sozialen und epistemischen Sphäre stabil verorten lässt, sondern einen stark diffusen bzw. diffundierenden Charakter aufweist. Privilegierte oder sogar dominante Positionen, von denen aus verbindlich über Glück geredet wird, sind somit immer Ergebnis aufwändiger Hervorbringungen und genuin prekär.