Universität KonstanzExzellenzcluster: Kulturelle Grundlagen von Integration

Literatur und Völkerrecht

Kulturelle Grundlagen postsouveräner Integration

Prof. Dr. Thomas Weitin

Abstract

Das Projekt untersucht in historisch-systematischer Perspektive die europa- und völkerrechtlich zentrale Frage, welche Rolle der Kulturbegriff für das Denken und die Praxis von Integration im postsouveränen Zeitalter spielt. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass die historische Völkerrechtsdiskussion in Europa durch einen sich verselbständigenden Kulturbegriff geprägt worden ist, was sich bereits in der naturrechtlichen Annahme einer globalen „Kultur des Menschen“, später in der Rechtsethnologie abzeichnet. Vor diesem Hintergrund soll den europapolitischen und souveränitätstheoretischen Diskursfiguren der Gegenwart auf den Grund gegangen werden. Die supranationalen Strukturen innerhalb der Europäischen Union sind mit einer Identitätspolitik verbunden, die auf die Schwierigkeiten der Postsouveränität, die im Verhältnis von Recht und Politik entstehen, vorerst durch eine Kulturalisierung der Debatte reagiert („geteilte Souveränität“ als „Einheit in der kulturellen Vielfalt“ usw.). Angesichts dessen kommt den unsouveränen Erzählweisen, die in der Gegenwartsliteratur bei der Darstellung völkerrechtlicher Zusammenhänge zu verzeichnen sind, der Projektthese nach eine Schlüsselrolle zu.

Historisch wie im Rahmen der aktuellen Diskussionen um die Folgen globaler Interventionspolitik stellt sich die Frage nach dem Gehalt und nach der Verbindlichkeit völkerrechtlicher Regelungen. Schon am Beginn des modernen Völkerrechts in Europa nach 1648 lässt sich eine Gleichzeitigkeit von normativer und prozeduraler Orientierung beobachten. Den Normen des Naturrechts treten Verhaltenslehren der „Staatsgalanterie“ an die Seite, die nach den Vorstellungen vom Weltbürgerrecht die Voraussetzung einer sanften Form der Normengenese darstellen sollen. Dabei erhalten Begriffe wie der der Billigkeit einen normativen Richtwert, die ansonsten als zu deutungsoffen aus dem Rechtssystem ausgeschlossen werden. Bis heute gilt das Völkerrecht auf dieser Grundlage als „weicher“ und gleichsam unjuristischer Gegenstand, der einerseits der robusten Mittel politischer Entscheidungen bedarf und andererseits darauf angewiesen ist, den Gesellschaften erzählerisch, figurativ und womöglich dramatisch vor Augen gestellt zu werden.

Aus diesen Grenzverhältnissen ergibt sich die Notwendigkeit, den Zusammenhang von Völkerrecht und Literatur historisch und systematisch eingehend zu untersuchen. Dazu gehören gattungstheoretische Fragen (Rolle des Tragischen) und eine narrativorientierte Analyse einschlägiger Textsorten (Präambeln u.a.). Außerdem sind zentrale Figuren des Völkerrechts (Flüchtling, Pirat, Gesandter etc.) im Spannungsfeld von realem und fiktivem Auftritt in den Blick zu nehmen.