Universität KonstanzExzellenzcluster: Kulturelle Grundlagen von Integration

Der „Fluch des Kain”

Grundzüge einer Geistesgeschichte der Migration in der Frühen Neuzeit

Dr. Stefan Donecker

Abstract

Kaum ein Thema vermag in der heutigen gesellschaftspolitischen Diskussion dermaßen intensive Emotionen hervorzurufen wie die Frage der Migration. Die irrationalen Vorbehalte, Pauschalurteile und Stereotypen, die Migrantinnen und Migranten entgegengebracht werden, haben allerdings eine lange Vorgeschichte. Das Forschungsvorhaben soll der Frage nachgehen wie Gelehrte während der Frühen Neuzeit, zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert, menschliche Mobilität wahrgenommen und beurteilt haben.

Wissenschaftsgeschichtliche Beiträge, die sich mit der Entwicklung von Migrationsforschung als geistes- und sozialwissenschaftlicher Disziplin beschäftigen, beschränken sich zumeist darauf die Theoriebildung bis ins 19. Jahrhundert zurückzuverfolgen. Dabei wird außer Acht gelassen, dass sich auch Gelehrte früher Jahrhunderte mit dem Thema Migration befassten. Diese frühe Migrationsforschung bestand keineswegs aus einer bloß deskriptiven Bestandsaufnahme von Wanderungsbewegungen. Frühneuzeitliche Gelehrte waren, wie ihre heutigen Kolleginnen und Kollegen, bestrebt, theoretisch über Migration zu reflektieren, Methoden zur Beschreibung von Migrationsprozessen zu entwickeln und nach etwaigen Gesetzmäßigkeiten, denen menschliche Mobilität unterliegt, zu fragen.

Vom Standpunkt frühneuzeitlicher Gelehrter war Migration eines der zentralen Phänomene, die den Verlauf der Menschheitsgeschichte bestimmt hatten – von den ersten Wanderungen der Noachiden nach der Sintflut über die barbarischen Invasionen, die das Römische Reich zu Fall gebracht hatten, bis in die Gegenwart. Migration und Mobilität spielen in vielen Aspekten und Themenfeldern der gelehrten Literatur eine Rolle – etwa in historiographischen Schriften, die die Völkerwanderungen der Vergangenheit zu rekonstruieren versuchten, in juridischen Traktaten, die sich die Reglementierung der Mobilität sozialer Unterschichten, sogenannter „Fahrender Leute“ zum Ziel setzten, in der Naturrechtsdebatte in Hinblick auf einen nomadischen Naturzustand als philosophisch erschließbare ursprüngliche Lebensform der Menschen, oder in der theologischen Exegese biblischer Schlüsseltexte wie etwa dem Buch Exodus.

Obwohl Migration, gemäß dem alttestamentarischen Bericht des Buches Genesis, eine universale Erscheinung war, die für Gottes Heilsplan unabdinglich war, waren frühneuzeitliche Gelehrte dennoch geneigt, Migration und die daran beteiligten Menschen einer wertenden Beurteilung zu unterziehen. Im Rahmen des Forschungsvorhabens soll auf jene ethische Bewertung von Wanderbewegungen im frühneuzeitlichen Schrifttum besonderes Augenmerk gelegt werden: Migration wurde einerseits als Ausdruck einer sündhaften Gesinnung verurteilt, die Menschen dazu verleitet sich von Gott zu entfremden und die zu Verrohung und Sittenlosigkeit führt. Andererseits konnte sie auch als Indiz für Tapferkeit und Gehorsam gegenüber Gott gedeutet werden, nach den klassischen Vorbildern Abraham, Mose oder Aeneas. Die widersprüchlichen Implikationen von Migration, die sich teilweise in den Werken ein- und derselben Autoren wiederfinden, weisen auf die grundlegende Ambivalenz hin, mit der die frühe Neuzeit menschliche Mobilität beurteilte. Durch die Analyse dieser Nuancen hoffe ich, die „begriffliche Vorgeschichte“ eines außerordentlich wichtigen und problematischen Idioms gesellschaftlicher Analyse darlegen zu können.

Die historische Perspektive, durch die die politischen Debatten der Gegenwart relativiert werden können, besteht nicht ausschließlich in der Dokumentation und Analyse geschichtlicher Migrationsprozesse. Solange wir, als moderne Historikerinnen und Historiker, erforschen wie, wann und warum Menschen in der Vergangenheit gewandert sind, bleibt die Betrachtung einseitig. Es wäre wünschenswert, in einem Dialog mit der Vergangenheit zu treten, vergangene Jahrhunderte zu Wort kommen zu lassen und sich anzuhören, was Gelehrte früherer Zeiten zu Migration zu sagen haben. Eine Geistesgeschichte der menschlicher Mobilität könnte, in Hinblick auf das Thema des Exzellenzclusters, „Kulturelle Grundlagen der Integration“, dazu beitragen, die moderne Migrationsdebatte aus ihrer Entwicklung heraus zu begreifen, xenophobe Diskurselemente zu hinterfragen und zu ihrer Überwindung beizusteuern.