Universität KonstanzExzellenzcluster: Kulturelle Grundlagen von Integration

Recht und Moral

Dr. Daniela Winkler

Abstract

Das Arbeitsvorhaben unter dem Titel „Recht und Moral“ nimmt gegenwärtige Prozesse innerhalb der deutschen Rechtsordnung in den Blick, welche zusammenfassend als Verrechtlichung von Ethik beschrieben werden können. Exemplarisch sei auf die Antidiskriminierungsgesetzgebung verwiesen, welche eine „moralisierende“ Dimension in die staatliche Rechtsetzung hereinträgt, indem sie die innere Motivation zum Bewertungsmaßstab privatautonomer Verträge macht. Der hierauf bezogene Diskurs ist Spiegelbild des Systemwechsels: Das der Antidiskriminierungsgesetzgebung zugrunde gelegte Grundrechtsverständnis wird als „Käfiggitter für die Bürger“ bezeichnet, welches einem traditionellen rechtsstaatlichen Freiheitsverständnis entgegensteht. Die Wertung als „inhomogene(r) und inkompatible(r) Fremdkörper“ der modernen, vom Grundgesetz geprägten Gesamtrechtsordnung verdeutlicht ebenso wie die hohe – und zumeist kritische – Aufmerksamkeit, die diese Normkreationen – bislang zumeist aus dem zivilrechtlichen Schrifttum – erhalten haben, die Sonderstellung, welche ihnen in der vorgefundenen Rechtsordnung zugesprochen wird. Die Vorwürfe reichen von der Annahme einer „Jakobinischen Tugendrepublik“ bis zum Vorwurf des Totalitarismus. Die Antidiskriminierungsgesetzgebung erscheint als „Ausdruck einer neuen, moralische Wertmaßstäbe verrechtlichenden europäischen Leitkultur“. Zwar findet sich auch in der liberalen Staats- und Verfassungslehre der Versuch, die „allzu prekär integrierte Gesellschaft zusätzlich durch Tugenden zu stabilisieren“. Exemplarisch sei auf die entsprechenden Ansätze bei Josef Isensee oder Ernst-Wolfgang Böckenförde verwiesen. Bislang schien jedoch Einigkeit darüber zu bestehen, dass der „politische“ oder „sittliche“ Staat die Grenze des Paternalismus nicht erreichen darf, welcher Freiheit auf die „Freiheit des tugendhaften Handelns“ reduziert.

Gegenwärtige „Ethisierungstendenzen“ – auch in der Zweiten und Dritten Gewalt – lassen Zweifel an dieser Überzeugung deutlich werden. Zu beobachten sind ‚Umwidmungen‘ öffentlich-rechtlicher Vorschriften, welche einer derartigen Entwicklung Vorschub leisten. Als Einfallstor dient hier insbesondere der wiederbelebte Begriff der öffentlichen Ordnung. Noch vor zehn Jahren schien dieser Rechtsbegriff quasi auf dem Totenbett zu ruhen. Ihm wurde allenthalben Verfassungswidrigkeit attestiert, sein tatsächlicher Anwendungsraum schien gegen Null zu tendieren. Nunmehr verdeutlicht sich die Renaissance einer – entsprechend der Wertmaßstäbe des Grundgesetzes (politisch) aufgeladenen – öffentlichen Ordnung, welche in der Tradition des Polizei- und Wohlfahrtsstaates die Trennung zwischen Rechts- und Sozialnormen verwischt und sich daher bereits in der Vergangenheit deutlicher Kritik ausgesetzt sieht. Die vor wenigen Jahren vorherrschende Funktionslosigkeit der Begrifflichkeit sieht sich nunmehr einer reaktivierenden Inanspruchnahme durch das politische Versammlungsrecht, das private Wirtschaftsrecht oder das Polizeirecht (im „Kampf gegen aggressive Bettelei, öffentliche Trinkgelage und ähnliche Nutzungsformen des innerstädtischen Raums“ oder „Rücksichtslosigkeiten in Fußgängerzonen“) gegenüber. Zwar soll der Gedanke der öffentlichen Ordnung dort seine Grenze finden, wo nicht mehr Störungsabwehr, sondern Schaffung einer bestimmten gewünschten „guten“ Ordnung Ziel der Regelung ist. – Wie aber unterscheidet sich das in jüngerer Zeit zunehmende Verbot von Alkoholkonsum im öffentlichen Raum von der Frankfurter Ratsverordnung von 1756, die noch unter dem Eindruck eines wohlfahrtstaatlichen Verständnisses „verwarnet, sich des übermäßigen Trinckens und Zechens“ zu enthalten?

Primäres Steuerungselement der modernen Gesellschaft ist das Recht. Mit der Erkenntnis, dass dieses nicht gott-, natur- oder vernunftgegeben, sondern Gestaltungsinstrument einer legitimierten Herrschaftsform ist, erschließt sich die Abgrenzung zur Moral unmittelbar. Sie wird bereits in der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen formuliert. Zwar ist insbesondere einem staatszentrierten Rechtsbegriff die Befugnis immanent, seine Außengrenzen gegenüber den sog. Sozialnormen selbst zu bestimmen. andererseits ist eine „rechtsstaatliches Rechtsverständnis“ auch durch das Merkmal der „Distanz“ bestimmt, welches einen Raum gesellschaftlicher Selbstwahrnehmung und –steuerung akzeptiert. Die auf Hegel rückführbare Entzweiung des Individuums bietet ihm die Möglichkeit, gegenüber seiner Einbindung in die es umgebenden religiösen, politischen und sozialen Zusammenhänge seine Subjektivität und in der Gemeinschaft die Grundlagen seiner Kollektivität geltend zu machen. Das Ziel einer hierauf aufbauenden rechtsstaatlichen Verfassung kann daher nicht darin liegen „einen neuen Wertabsolutismus normativ (zu) verfestigen“, sondern muss sich auf die Gestaltung eines Rahmens für das staatliche und gesellschaftliche Leben beschränken. Die beschriebene normative Entwicklung bedeutet hingegen die Ablösung der offenen pluralistischen Gesellschaft durch das politisch motivierte (an die christlich-abendländische Tradition anknüpfende) „Verfassungsdiktat“. W. Höfling spricht bereits von einer „mit den höheren Weihen von Verfassungswerten geschmückte Verhüllungsformel für richterlichen bzw. interpretatorischen Dezisionismus“. Die gesellschaftliche Moral wird durch die Moral der Verfassung ersetzt – der Staat als objektive Entscheidungsinstanz wird zur verfassungsgebundenen Werteinstanz. Der Gesellschaft wird die Kompetenz zur autonomen Begründung und Festigung ihrer Wertordnung entzogen.

Der Grund hierfür – so wird im Rahmen des vorliegenden Projekts vermutet – liegt in einem wachsenden kulturellen Integrationsbedürfnis bei schwindender kultureller Integrationsfähigkeit. Ersteres ist Ausdruck der Wahrnehmung fortschreitender Entstaatlichung, weshalb der Verlust einer Einheit schaffenden und gewährleistenden Autoritäts- und daher auch Integrationsinstanz angenommen wird. Die „Demontage des Staates als Ordnungsgarant“ lässt das „Auseinanderfallen der Gesellschaft“ in ihre unorganisierte Vielschichtigkeit befürchten. Die Wiederbelebung der Sicherungs- und Regulierungsfunktion des prekären Staates wird zum adäquaten Gegenmittel. Der Gesellschaft selbst scheint ihre Integrationsfähigkeit aufgrund einer zunehmend diffundierenden werthethisch-religiösen Verortung verloren gegangen zu sein. Kopftuch- und Kruzifixstreit sind hierfür exemplarischer Ausdruck.