„Religion ist eine Sache, Nationalität eine andere“
Sprache, Religion und Politik in Bosnien-Herzegowina während der Habsburger Zeit
Abstract
Das Projekt untersucht die im muslimisch-intellektuellen Milieu kursierenden Religions- und Sprachkonzepte und den daraus resultierenden Politikbegriff während der österreichisch-ungarischen Periode Bosnien-Herzegowinas vom Berliner Kongress 1878 bis zur endgültigen Annexion 1908. Es betrachtet vier generationsgleiche, politisch sowie literarisch aktive Akteure: Safvet-beg Bašagić, Musa Ćazim Ćatić, Osman Nuri Hadžić und Osman Đikić. Sie repräsentieren vier unterschiedliche, thematisch-argumentative und ästhetische Strategien, die sich im bosnisch-muslimischen kulturellen Milieu beobachten lassen:
Safvet-beg Redžepašić Bašagić (1870–1934), der spätere Präsident des bosnischen Parlaments in Sarajevo und Kurator des ersten bosnischen Landesmuseums, repräsentiert einen dokumentarisch angelegten literatur- und kulturgeschichtlichen Ansatz. Er verfasst mit Eine kurze Reise in die Vergangenheit Bosniens und der Herzegowina (Kratka uputa u prošlost Bosne i Hercegovine, 1900) nicht nur die erste bosnische Chronik in der ‚Landessprache’ und lateinischer Schrift; sondern ordnet zudem in seiner Dissertation Bosnier und Herzegowiner in der islamischen Literatur (Bošnjaci i Hercegovci u islamskoj književnosti, 1912) und dem Folgewerk Berühmte Kroaten, Bosnier und Herzegowiner im türkischen Reich (Znameniti Hrvati, Bošnjaci i Hercegovi u turskoj carevini, 1931) historische bosnisch-herzegowinische Persönlichkeiten in einem überregionalen, islamischen Kontext ein.
Bei Osman Nuri Hadžić (1869–1937) dominieren religionstheoretische und kulturphilosophische Argumentationen. Er veröffentlicht u.a. Traktate über Islam und Kultur (Islam i kultura, 1894) oder über Islam und Bildung (Islam i prosvjeta, 1903), in denen er auf der Basis des Korans für eine Modernisierung des Islam und der muslimischen Gesellschaft argumentiert.
Musa Ćazim Ćatić (1878–1915) studiert orientalische Sprachen in Istanbul, islamisches Recht in Sarajevo und Jura in Zagreb. Besonders seine Lyrik steht für eine literarisch-experimentelle Poetik, bei der religiöse Motive ins Ästhetische transponiert werden.
Osman Đikić (1879–1912) ist aus sprachgeschichtlich-schriftpragmatischer Perspektive interessant: Aus der Herzegowina stammend, lebt er in Istanbul, Belgrad und Sarajevo. In seinen Gedichtbänden Bruderschaft (Pobratimstvo, 1900), Der muslimischen Jugend (Muslimanskoj mladeži, 1902) und Der Verehrer (Ašiklija, 1903) überlagern sich sein herzegowinisches Idiom mit serbischem Patriotismus und türkischer Lexik sowie lateinische, kyrillischem und arabische Alphabete.
Auf einer diskursanalytischen Ebene sollen die Religions- und Sprachkonzepte und der sich daraus ableitende Politikbegriff der bosnisch-muslimischen Intellektuellen in den wichtigsten Literatur- und Kulturzeitschriften (u.a. Bosnische Fee (Bosanska vila, 1885–1914), Bosniake (Bošnjak, 1891–1910) und Blüte (Behar, 1900–1910)) untersucht werden. Mit der Habsburger Regierung und den neu erschaffenen Strukturen im Druck- und Pressewesen entstand eine lebendige Publizistik-Szene in Bosnien. Die Autoren publizierten, unter ihrem eigenen Namen sowie unter zahlreichen Pseudonymen, in verschiedenen, oft politisch kontroversen Blättern.
Auf einer poetologischen Ebene werden die literarischen Texte daraufhin analysiert, wie sprachliche, religionsphilosophische und politische Konzepte künstlerisch umgesetzt werden, und wie die Texte durch ihre Sprachgestalt und Poetik an den Debatten partizipieren.
Das Projekt verfolgt die These, dass die bosnisch muslimischen Intellektuellen in den Jahren zwischen 1878 und 1908 an einer in verschiedenen Regionen des Osmanischen Reiches virulenten Säkularisierungsbewegung partizipieren, die von den Jung-Osmanen ausging, und die durch Studienaufenthalte in Istanbul und Westeuropa weiter verstärkt wurde. Im Milieu der bosnischen Intellektuellen wird ein differenziertes, laizistisches und vor allem modernes Verständnis von Religion und Sprache als Grundlage für politische Konzepte der Gemeinschaftsstiftung entwickelt – gemäß dem Diktum des ersten Bürgermeisters Sarajevos und Herausgebers von Bošnjak, Mehmed-beg Kapetanović-Ljubušak: „Religion ist eine Sache, Nationalität eine andere“ („Baška vjera, baška narodnost“, Džaja 1994, 210). Damit reagiert Kapetanović-Ljubušak, der herausragende Vertreter einer überkonfessionellen, bosnisch-herzegowinischen Einheit, auf den anonymen Artikel Bosnien. Gegenwart und nächste Zukunft (1886), in dem das Habsburger politische Vorhaben der Spaltung der bosnischen Christen von den bosnischen Muslimen propagiert wird.
Die Brisanz der These besteht darin, dass sich vor diesem Hintergrund die von der Habsburger Regierung im Namen einer Modernisierung Bosnien-Herzegowinas betriebene Sprachen- und Religionspolitik als eine Initiative erweist, die die Grundlagen zu jener eminent konfliktträchtigen Ethnisierung und Politisierung des Religionen gelegt hat, die heute auf massive Weise das politische Handeln in Bosnien bestimmen.