Universität KonstanzExzellenzcluster: Kulturelle Grundlagen von Integration

La preocupació

Der mallorquinische Antisemitismus als negative Integration – Ethnogenetische Funktionalisierung und kulturelle Verhandlung eines stigmatisierten Dritten

Prof. Dr. Pere Joan i Tous

Abstract

Der mallorquinische antixuetisme als vielleicht genuinste Form des europäischen Antisemitismus bildet in geradezu exemplarischer Weise ein hermeneutisches Feld, in dem sich ein nachhaltiger und vielschichtiger Prozess von sozialer und symbolischer Exklusion nachvollziehen lässt. Dabei weist dieses Projekt eine naheliegende Anbindung zur Gesamtthematik des Clusters auf, insbesondere aber zu den Forschungsfeldern „Erzähltheorie als Kulturtheorie“ und „Kulturdynamik von Religion“.

Die Geschichte des mallorquinischen Antisemitismus nach der Selbstauflösung der Aljama durch einen kollektiven Übertritt ihrer Mitglieder (1435) ist gut dokumentiert, allerdings nur äußerst punktuell aufgearbeitet. In genuin historiographischer Hinsicht und aus einer institutionellen Perspektive ist vor allem das Wirken der Inquisition auf Mallorca untersucht worden. Auch die äußerst komplexen endogamischen Strategien, die das Fortbestehen eines kryptojudaischen Kollektivs bis Ende des 17. Jahrhunderts gesichert haben, sind sozialanthropologisch überzeugend analysiert worden.

Was allerdings weiterhin fehlt, ist eine umfassende kulturwissenschaftlich orientierte Studie zur vielschichtigen narrativen Konstruktion des xueta als „fremder“ Bestandteil der mallorquinischen Gesellschaft, als alienierter Dritter, dessen Präsenz die narzisstisch besetzte Zweisamkeit des „altchristlichen“ Mallorquiners mit seinem, weil nicht jüdisch „kontaminierten“, durch makellose „Reinheit“ magnifizierten Idealselbst qua ethnische Identität stört und deshalb – auch gegen die von der Kirche seit jeher offiziell vertretene, integrative Logik der Taufe – in seiner radikalen Fremdheit verewigt werden soll.

So wird sich die Studie als erstes mit La fe triunfante eingehend befassen, stellt doch dieses barocke Werk, das die autos de fe von 1691 als eine Art geistliches Festspiel narrativ inszeniert, die Anfangserzählung des antixuetisme im engeren Sinne dar. Dabei soll ganz besonders das Inszenierungsmoment der Narration als solche hervorgehoben werden, da diese in geradezu idealtypischer Weise die Abfolgeordnung eines sozialen Dramas zeigt: vom religiösen Normbruch des Kryptojudaismus über die infolge des Fluchtversuches erfolgte Krise und deren Bewältigung durch die inquisitorischen Rechtsverfahren bis hin zur im Autodafé nachvollzogenen, endgültigen Trennung qua Alienation des xueta-Kollektivs. Untersucht werden soll aber auch die performative Dimension des minutiös erzählten Autodafé und dies nicht zuletzt im Hinblick auf seine spannungsgeladene Raumsemantik, die sowohl sinnstiftend als auch evidenzerzeugend wirken soll. Dabei wird das Autodafé selbst als Grenzerzählung inszeniert: In dessen Vorfeld finden zahlreiche, in ihrer Gesamtstruktur labyrinthisch anmutende Prozessionen im innerstädtischen Kernbereich statt, während die abschließende „cremadissa“ selbst außerhalb der Stadtmauern stattfindet.

Einen weiteren zentralen Abschnitt meines Projektes stellt jene sich im Laufe des 18. Jahrhunderts festigende, geradezu drastische Reduktion der als „jüdisch“ geltenden Familiennamen dar. Diese patronimische Reduktion bildet zweifelsohne das singuläre Moment des mallorquinischen Antisemitismus, gleichwohl aber auch eine kulturanthropologische Unbekannte.

Dabei ist diese Namensselektion umso bedeutsamer, als mit ihr der Wandel vom neuzeitlichen Antijudaismus qua Antisemitismus zum modernen antixuetisme signalisiert wird.

Ziel dieses Projektabschnittes wird es also sein, diesen Wandel nachvollziehbar zu machen, wobei die Vorarbeiten gezeigt haben, dass diese Reduktion einer Art narrativen Leerstelle gleicht, die erzählstrategisch zur Evidenzerzeugung eingesetzt wird. Dies soll vor allem anhand der zahlreichen Stellungnahmen überprüft werden, die die verschiedenen – kirchlichen und weltlichen – Institutionen der Insel verfassten, als die mallorquinischen xuetas 1772-1773 eine Delegation nach Madrid entsandten, um vom König Carlos III ihre Gleichstellung einzufordern. Gerade diese im Sinne René Girards mehrheitlich als persekutorisch einzustufenden Texte (aber auch die von den xuetas selbst zu diesem Anlass wiederholt vorgelegten cahiers de doléances und die dementsprechenden Erwiderungen) vermögen über den in den unmittelbar vorausgegangenen Jahrzehnten erfolgten sozialen Reifikationsprozess des xueta-Kollektivs Auskunft geben. Vor diesem Hintergrund soll dann jene longue durée nachgezeichnet werden, die bis in die Spätphase des nationalkatholisch legitimierten Franco-Regimes reicht.

Untersucht werden soll dabei die psychosoziale und ethnogenetische Dimension eines solchen „Antisemitismus ohne Juden“ und deren vielschichtige Diskursivierung. Ganz besonders aber soll in diesem Zusammenhang jene „preocupació“ (kat. Sorge) fokussiert werden, mit der seit Ende des 18. Jahrhunderts die Einschreibung der Alienation des xueta-Kollektivs in das kulturelle Gedächtnis euphemistisch semantisiert wurde. Der in Frage kommende Textkorpus ist zwar gattungsmäßig äußerst vielschichtig, dennoch aufgrund des insularen Rahmens quasi in toto erschließbar. Dieser spanisch-katalanisch-französische Textkorpus umfasst sowohl Volkslieder als auch Theaterstücke, liturgische Texte wie politische Essays, historische Romane wie auch Memoiren heute in Israel lebender, „rekonvertierter“ xuetes, historiographische Essays wie auch Feuilletonartikel zur genetischen Forschung.

Als Arbeitshypothese fungiert die in einer Vorarbeit bereits entfaltete Annahme, dass die xuetes als imaginäre Projektionsfläche eine proteische Konfiguration des Dritten darstellten, dessen systemstabilisierende ethnogenetische Funktion postuliert werden kann. Damit impliziert ist auch die Annahme, dass die sich ethnisch-rassisch gebärdende „preocupació“ der Mallorquiner, d. i. deren kollektiv getragene Sorge um die Reinheit des vertraulichen Umgangs und der familiären Bindungen, nicht nur im tradierten funktionsgeschichtlichen Sinne eine Rationalisierung von ganz anderen (machtpolitischen bzw. ökonomischen) Standes- und Klassendifferenzen darstellt, sondern vor allem auch als die wesentliche kulturelle Grundlage einer negativen Integration verstanden werden kann, deren Gründungsmoment die im Autodafé von 1691 besiegelte symbolische Grenzziehung zwischen „kontaminierten“ und „nicht kontaminierten Blutes“ war.