Universität KonstanzExzellenzcluster: Kulturelle Grundlagen von Integration

Mahnen und Regieren

Der Gute Hirte als politisches Ordnungsmodell im früheren Mittelalter

Dr. Monika Suchan

Abstract

Die Metapher vom Hirten wurde seit den frühen Hochkulturen benutzt, um die Verantwortung von Führungsrollen zu beschreiben. Der Papst und Kirchenlehrer Gregor der Große formulierte daraus in der Regula Pastoralis ein Modell, das die Angelsachsen seit dem 8. Jahrhundert als Missionare im Frankenreich verbreiteten. Damit beeinflussten sie vor allem die hohe Geistlichkeit sowie die Karolinger, welche die Hirtenmetapher in ihrer Herrschaft umzusetzen versuchten.

Gemeinsam entwickelten daher Könige und Bischöfe seit der Mitte des 8. Jahrhunderts das Führungsmodell Gregors zu einem Diskurs weiter, dessen Funktionsweise sich mit Michel Foucaults Theorie von „Pastoraler Macht“ beschreiben lässt. Er beruhte auf einer zentralen Aufgabe des Hirten, nämlich der Ermahnung. Als sein wichtigstes politisches Forum dienten Synoden, wo König, Bischöfe und Adel als Inhaber von Führungsrollen zusammenkamen, um ihrer religiös fundierten Verantwortung politisch nachzukommen. Dabei wurde eine Fülle von Texten produziert, die sowohl als Wissensspeicher als auch als konkrete machtpolitische Instrumente fungierten, um die fränkische Gesellschaft als Ganze zu strukturieren und zu organisieren.

In der Liturgie der Königsweihe und vor allem durch religiös geprägte Rituale und Gesten trugen , so die Ausgangshypothese des Forschungsvorhabens, König, Geistlichkeit sowie der weltliche Adel Vorstellungen von pastoraler Verantwortung weit in die politischen Diskurse des 10 und 11. Jahrhunderts hinein. Wenn dies zutrifft, müssen die vielschichtigen und weit reichenden Auseinandersetzungen dieser Führungsrollen während des so genannten Investiturstreites einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. Dieses Forschungsparadigma geht davon aus, dass der Papst in neuartiger Weise seinen Führungsanspruch gegenüber dem König bzw. Kaiser mit dem Hinweis auf seine durch die apostolische Sukzession bedingte Binde- und Lösegewalt begründete und dadurch einen generellen Vorrang der Priester gegenüber den Laien formulierte, unter die nunmehr auch und gerade der König einsortiert wurde.

Überprüft werden soll also, ob die Kontrahenten tatsächlich ihr transzendent verankertes Rollenverständnis und damit jeweils die Legitimationsbasis des anderen zur Disposition stellten. Denn sowohl König bzw. Kaiser als auch der Papst waren in jeweils unterschiedlicher Weise von Gott dazu beauftragt waren, für das Wohl der ihnen anvertrauten Untergebenen zu sorgen, sei es als Gekrönter und Gesalbter oder als geweihter Priester in der apostolischen Nachfolge Jesu. Diese Aufgaben waren aber zugleich Grundbestandteile des Hirtenmodells, das Gesellschaft und Politik des Frankenreiches und seiner Nachfolger geordnet und geprägt hatte, sie stellten also alles andere als ein Novum dar, das als solches zum Konfliktgegenstand avancieren konnte. Wenn also Vorstellungen von pastoraler Verantwortung auch im 11. Jahrhundert präsent waren, sollen diese innerhalb des Forschungsvorhabens als Folie für Ursachen, Gegenstand und Verlauf der Konflikte analytisch genutzt werden.

Daher wird untersucht, wie die politischen, vielfach durch Konflikte geprägten Diskurse jenseits des Paradigmas eines Investiturstreites funktionierten: Beteiligten sich König, Geistlichkeit und Hochadel daran als Führungsrollen, wie sie das Hirtenmodell definierte, oder lassen sich gegenüber den früheren Diskursen – die auch nicht wenige Konflikte enthielten – Veränderungen ausmachen? Wurden vielleicht Leitungsaufgaben anders definiert und modifizierte man damit auch den Gegenstandsbereich von politischer Verantwortung? Welche Funktion spielten die religiösen Fundamente der Hirtenmetapher, vor allem im Streit zwischen König bzw. Kaiser und Papst?

Für die Bewertung der politischen Diskurse des 11. Jahrhunderts muss ferner eine strukturelle Überlegung einbezogen werden. Nach der Karolingerzeit war Politik als gemeinsame Leitungsaufgabe von König, Geistlichkeit und Adel seit etwa 900 insofern nicht weiterentwickelt worden, als wesentliche Interaktions- und Kommunikationsräume nur akzidentiell vorhanden blieben, aber nicht institutionell verankert wurden. Beratungen von König, Großen und Bischöfen blieben praktisch ausschließlich an die traditionellen Reiserouten des Hofes gebunden; Synoden oder gar reichsweite Konzile waren mit einer eher sporadischen oder äußerst regional begrenzten Praxis weit von ihrer Geltung und damit auch von ihrer Wirksamkeit entfernt, wie sie in der Karolingerzeit zu beobachten war.

In Anbetracht dieser Bedingungen kann wird mit Bezug auf das Forschungsvorhaben davon ausgegangen, dass König, Bischöfe und Papst sowie der Adel und die Städte als Akteure (die erst in dieser Zeit politisch ernsthaft ins Gewicht fiel) am überlieferten Hirtenmodell politisch und konzeptionell zerrten und dabei versuchten, mit dem, was es an Regelungsmechanismen bot, der seit etwa 1050 besonders im deutschen Reich krisenhaft eskalierenden Situation zu begegnen.

Dies spiegelt vermutlich auch die Fülle an Überlieferung, vor allem erzählender Quellen, die sich der ordnungspolitischen Problematik direkt und indirekt widmen. Diese Texte sind in der Forschung viel gelesen und diskutiert worden, allerdings vornehmlich aus der Perspektive eines „Investiturstreites“. Neu und im Detail zu überprüfen gilt es daher, ob und wie das politische Handeln und Wissen, die mit der Vorstellung vom Hirten als Leitungskonzept vorhanden waren, unter den Bedingungen des 11. Jahrhunderts aktualisiert und verändert wurden.