Das „I/innere Afrika“ des Realismus
Literatur und Wissen über Afrika in der (Zeitschriften-)Kultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Abstract
Afrika stellt aus europäischer Perspektive traditionell einen Prototyp des Anderen, ‚das ganz Andere‘ dar. Vor allem das Innere Afrikas gilt bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts noch als einer der letzten ‚weißen Flecke‘ auf der Landkarte und eignet sich deshalb besonders gut für Phantasien und Projektionen aller Art, wird aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur zum Gegenstand sukzessiver wissenschaftlicher Erforschung, sondern auch zum Spielfeld des europäischen und nicht zuletzt auch des deutschen Kolonialismus. Dem entspricht ein breit gefächerter deutscher Afrikadiskurs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der neben geographischen und ethnographischen Reiseberichten und Publikationen in entsprechenden Fachzeitschriften (wie z.B. ‚Petermanns Mitteilungen’, der „Zeitschrift für Ethnologie“ und der ‚deutschen Kolonialzeitung’) auch deren Popularisierung in der illustrierten Bildungspresse und den zeitgenössischen Familienzeitschriften sowie Abenteuer- und Kolonialromane, aber auch kanonische realistische Texte umfasst.
Das Forschungsprojekt beschäftigt sich in diesem Zusammenhang mit Repräsentationsformen Afrikas im deutschsprachigen literarischen Realismus, die als eingeschlossenes Ausgeschlossenes ein konstitutiver Faktor der nationalen, bürgerlichen Identitätskonstruktion der Epoche sind. Parallel zu Edward Saids „Orientalism“ und Toni Morrisons „Africanism“ lässt sich ein deutscher ‚Afrikanismus‘ herausarbeiten, der mittels eines Systems von Binäroppositionen, in dem der Afrikaner all das repräsentiert, was der Deutsche nicht sein will, zum einen das deutsche Selbstbewusstsein profiliert und stärkt und zum anderen die Notwendigkeit und Berechtigung eines deutschen Kolonialismus in Afrika begründet.
Ausgehend von den mediengeschichtlichen Entstehungsbedingungen realistischer Texte in der prosperierenden Zeitschriftenkultur des 19. Jahrhunderts werden dabei im Forschungsprojekt aus postkolonialer, mediengeschichtlicher und wissenspoetologischer Perspektive vor allem Wechselwirkungen zwischen dem literarischen Afrikadiskurs des Realismus und anderen Diskurs- und Wissensformen der Zeit untersucht: Inwiefern ist das Wissen über Afrika – im Sinne einer imaginären Geographie – literarisch verfasst? Welche anderen Medien (Illustrationen, Statistiken, Kartenmaterial) werden im wissenschaftlichen und populären Afrikadiskurs wie eingesetzt? Inwiefern fließt das neue ‚Faktenwissen‘ über Afrika in die literarischen Texte ein? Gibt es daneben auch ein (genuin literarisches) Reflexionswissen über den Afrikadiskurs?
Die so kollationierten Repräsentationsformen Afrikas werden begrifflich mittels der Metapher vom „I/inneren Afrika“ des Realismus gefasst, die in der Lage ist, unterschiedliche Facetten des zeitgenössischen Afrikadiskurses zu integrieren: das Innere Afrikas im wörtlichen, geographischen und das „innere Afrika“ im metaphorischen, psychologischen Sinne als „inneres Ausland“, als Unbewusstes, im Prozess der Zivilisation Verdrängtes oder Marginalisiertes, sowie die Interaktion zwischen beiden in Form vielfältiger Spiegelungs- und Projektionsmechanismen.