Universität KonstanzExzellenzcluster: Kulturelle Grundlagen von Integration

Kulturtheorien des Gabentausches

PD Dr. Iris Därmann, Dr. Kirsten Mahlke

Abstract

Marcel Mauss’ und Émil Durkheims Theorie der Zivilisation legt es nahe, das Kulturelle eines jeglichen kulturellen Phänomens im Ausgang von der Gabe, genauer: von der Weitergabe zu denken. Die Vielfalt und Verschiedenheit der Kulturen rühren daher, daß die faits de civilisation weitergegeben werden. Die Gabe ermöglicht so eine Verallgemeinerung dessen, was sich für jedes bestimmte kulturelle Phänomen als zutreffend erweisen könnte und die Offenheit, Durchlässigkeit, Fragilität, Diversifikation und Differenzialität jeder existierenden Kultur zu denken erlaubte: Nur dasjenige, was gegeben, genommen und erwidert, was übergeben, übertragen, wieder-, weiter- und fortgegeben werden kann, ist kulturell und nicht natürlich. Diese Definition schließt nicht nur eine Kultur des Natürlichen mit ein, sondern verbietet auch, das Kulturelle als die Weitergabe von etwas bereits Vorhandenem oder schon Gegebenem zu denken, das vom Prozeß, Ereignis oder Akt seiner Gebung unberührt bliebe. Kulturelle Phänomene sind das, was sie sind und sein können, nur als transitorische, das heißt sie existieren nur in den Serien, Versionen und Brüchen ihrer Weitergaben, Annahmen und Erwiderungen und sind damit einer beständigen Dynamik der Abweichung, Veränderung, Aneignung, Interpetation und Verwendung ausgesetzt.

Mauss und Durkheim haben mit ihrer Theorie der Zivilisation zweifellos einen neuen Zugang zum Problem der Kultur gefunden, deren entscheidender Agent im Gabentausch als dem stetigen Prozeß der Veränderung kultureller Phänomene im modalen Kontext ihrer Verwendungs-, Gebrauchs- und Interpretationsweisen besteht. Dieser Zugang soll als systematischer Schlüssel für die Lektüre der Gabentheorien von Malinowski, Saussure, Lévi-Strauss, Bataille, Heidegger, Freud, Lacan, Starobinski, Levinas, Derrida, Annette Weiner fruchtbar gemacht werden. Dabei steht nicht nur eine dichte Rezeptions- und – im Sinne kulturtheoretischen Selbstanwendung – eine Gabentauschgeschichte der Gabentheorien selbst in Frage, sondern auch eine begriffliche Differenzierung (nicht aber Entgegensetzung) zwischen expliziten Gaben und implizitem Gabentausch, zwischen Gabe und Tausch, beschränkter und allgemeiner Ökonomie, Weitergabe, Transmission und Zirkulation im Bereich von Intersubjektivität, Generativität, Intrakulturalität und Interkulturalität.