Samenspender, Leihmütter, Retortenbabies
Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie
Abstract
Familienstrukturen organisieren sich im Verhältnis von Allianz und Deszendenz. Willkür der Partnerwahl und Notwendigkeit der Abstammung ergänzen sich zu einem „doppelten Rhythmus des Gebens und Nehmens“ (Claude Lévi-Strauss), der die Ordnung der Verwandtschaftsbeziehungen gewährleistet. Seit wenigen Jahrzehnten, seit der Etablierung neuer Reproduktionstechnologien wie In-vitro-Fertilisation, Samenspende und Leihmutterschaft (die in Ländern wie den USA oder Großbritannien nahezu uneingeschränkt verbreitet, in Deutschland nur bedingt zugelassen sind), scheint diese Ordnung auf die Probe gestellt zu werden: Vor allem das Bild der Kernfamilie, wie es in der christlich geprägten Kultur seit vielen Jahrhunderten Gültigkeit hat, wird durch diese Aufspaltung und Vervielfältigung von Elternschaft irritiert. Die weitreichenden Implikationen dieser Technologien in medizinischer, rechtlicher, sozialer und ästhetischer Hinsicht zu beschreiben, ist das Thema des vorliegenden Forschungsprojektes.
Das grundsätzliche Erkenntnisinteresse des Projektes besteht in der Frage nach den veränderten Organisations-, Legitimierungs- und Darstellungsweisen von Familie, wie sie die neuen Reproduktionstechnologien notwendig machen. Was hat es zu bedeuten, dass Kinder in zunehmendem Maße nicht mehr aus der geschlechtlichen Vereinigung von Vater und Mutter hervorgehen, dass sich Sexualität und Fortpflanzung voneinander entkoppeln? Welche Funktion nehmen jene Figuren des Dritten ein – Samenspender („Donors“), Leihmütter, Eizellenspenderinnen –, die sich im Laufe der Zeugung und Austragung zwischen Eltern und ihre Kinder schieben? Die Techniken „assistierter Empfängnis“ sorgen für eine Fragmentierung der Elternschaft, die ein komplexes, nur mit massiven Anstrengungen zu ordnendes Geflecht von Beziehungen hervorbringt (Kinder können mittlerweile bis zu fünf Elternteile haben).
Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang vor allem die rechtlichen Strategien, die zur Regulierung der wuchernden Verwandtschaftsverhältnisse herangezogen werden. Eine Vielzahl von Verordnungen, von der vorgeschriebenen Anonymität der Samenspender bis zum Besuchsverbot von Leihmüttern nach der Geburt des Kindes, arbeitet an der Anästhesierung problematischer sozialer Beziehungen zwischen den Beteiligten, beschränkt die Funktion hinzugezogener Dritter auf den Status bloßer Lieferanten. Die Rechtssprechung weiß mithin um die prekäre Demarkation zwischen den auf existenzielle Weise miteinander verbundenen Körpern und Biografien von Fremden; nicht umsonst hat es etwa in der erst zwanzig Jahre alten Geschichte der Leihmutterschaft bereits mehrere Fälle gegeben, in denen diese poröse Grenze nicht hielt und die Leihmutter sich weigerte, das ausgetragene Kind den rechtmäßigen Eltern zu übergeben. Ebenso folgerichtig ist es vor diesem Hintergrund, dass sich die wenigen fiktionalen Annäherungen an das Thema in Literatur und Kino bislang gerade auf diese Porosität der Grenzen konzentrierten: vertragsbrüchige Leihmütter; Samenspender, die auf die Suche nach ihren Nachkommen gehen; vom selben Donor gezeugte Halbgeschwister, die unwissentlich in eine inzestuöse Liebesbeziehung geraten. Das Projekt wird gerade auch in fiktionalen Dokumenten die irritierenden Strukturen der neuen Familien- und Verwandtschaftsverhältnisse und deren Angstpotenziale zu entziffern haben.
Die geplante Studie versucht, einen historischen und einen gewissermaßen ethnographischen Zugang zu dem Thema miteinander in Verbindung zu setzen. Zum einen soll die Tragweite der gegenwärtigen Proliferationen der Familienstruktur gerade durch die Analyse tradierter Bilder bürgerlicher Kernfamilie (etwa in der Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts) anschaulich gemacht werden. Zum anderen aber soll diese historische Dimension der Untersuchung ergänzt werden um dichte Beschreibungen der Schauplätze künstlicher Reproduktionstechniken selbst. Im deutschen Sprachraum fehlt im Augenblick noch eine monografische Darstellung dieser sich rasant ausbreitenden Sphäre (in Deutschland leben bereits ca. 100.000 durch Samenspende gezeugte Kinder), die sich in jüngster Zeit von einer randständigen, eher als befremdliches Kuriosum wahrgenommen Praxis zu einem alltäglichen medizinischen Arbeitsfeld entwickelt hat. Gerade aus diesem Grund scheint es notwendig, einmal die zentralen Orte und Kommunikationsmuster innerhalb dieses Milieus zu beschreiben: Wie genau sieht die Organisationsform von Samenbänken aus? Nach welchen medizinischen und kulturellen Kriterien vollzieht sich die Auswahl eines bestimmten Spendersamens? Welche Beziehungen bestehen zwischen dem Elternpaar und einer Leihmutter vor, während und nach der Austragung des Kindes?
Ziel des Projekts ist es, im Laufe von zwei bis drei Jahren eine Monografie vorzulegen. Ihr Gegenstand wäre, um mit Walter Benjamin zu sprechen, die Reproduktion im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit.
Publikationen
Andreas Bernard: Kinder machen. Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie. Samenspender, Leihmütter, Künstliche Befruchtung. Frankfurt M.: S. Fischer 2014
Andreas Bernard: Samenspender, Leihmütter, Retortenbabies: Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie. In: Inge Kroppenberg, Martin Löhnig (Hg.): Fragmentierte Familien. Brechungen einer sozialen Form in der Moderne, Bielefeld: transcript, 2010, S. 169-184.