Universität KonstanzExzellenzcluster: Kulturelle Grundlagen von Integration

Fluch der Meere

Piraterie, Völkerrecht und internationale Beziehungen in der frühen Neuzeit (16.-19. Jh.)

Dr. Michael Kempe

Abstract

Mit der Erschließung der Weltozeane, der Ausweitung des Seehandels und der maritimen Expansion europäischer Staaten wurde das offene Meer ab dem 16. Jahrhundert zu einem transnationalen Begegnungs- und Konfliktraum bisher nicht gekannten Ausmaßes. Seeräuberei, so alt wie der Seehandel selbst, weitete sich in dieser Zeit zu einem globalen Phänomen aus. In der rechtlichen und politischen Auseinandersetzung mit diesem Phänomen – so die These – bildeten sich zentrale Kennzeichen des neueren Völkerrechts heraus. Seeraub und Freibeuterei wurden in der frühen Neuzeit zu einem wichtigen Medium internationaler Beziehungen auf dem Meer.

Internationales Recht und internationale Politik haben sich in der Neuzeit auf vielfältige Weise organisiert und strukturiert. Bei der Behandlung von Kaperei/Piraterie handelt es sich um einen Gegenstandsbereich besonderer Problemfälle transnationaler und auch interkultureller Interaktionen: Angehörige verschiedener Nationen, Kulturen und Religionen trafen hier aufeinander, unterschiedliche Rechtsvorstellungen und politische Interessen wurden miteinander verhandelt, dabei immer wieder drei der wichtigsten Grundsatzthemen des Völkerrechts – „Krieg und Frieden“, „internationaler Handel“ und „politische Souveränität“ – berührt. Beschreibt man den Zusammenhang von Kaperei und Piraterie als Handlungs- und Kommunikationsmedium, eröffnet sich damit die Möglichkeit, die klassische Gegenüberstellung von Theorie und Praxis, von Diskurs und (sozialer) Realität zu überwinden und für das zu untersuchende Thema exemplarisch einen integrativen Zugang zu gewinnen. Ein solcher Zugang könnte dazu beitragen, die in der Forschung immer wieder erhobene Forderung, das Verhältnis von Idee und Ereignis, von Semantik und Struktur für die Geschichte internationaler Beziehungen zu untersuchen, an einem konkreten Beispiel einzulösen.

Auf der Forschungsebene ermöglicht ein solcher Zugang das Aufeinanderbeziehen unterschiedlicher Quellengruppen. Dazu zählen vor allem die gelehrte Rechtsliteratur, Friedens- und Handelsverträge, Protokolle von Kaperei- und Piratenprozessen, diplomatische Korrespondenzen sowie rituelle und symbolische Kommunikationen der miteinander verhandelnden Botschafter und Abgesandten. Kontrastierend soll auch ein Blick in die populäre Piratenliteratur (insbesondere die Reise- und Memoirenliteratur) geworfen werden. Die Untersuchung wird strukturiert durch die Gegenüberstellung ausgewählter Kontextanalysen in Form synchroner und diachroner Schnitte. Dabei werden neuere Ergebnisse der Forschungsliteratur sowie eigene Forschungen mit gedruckten und ungedruckten Quellen, letztere aus einem breiten Spektrum europaweiter und amerikanischer Archive geschöpft,  miteinander synthetisiert.

Anhand von vier Problemkreisen soll der Zusammenhang von Piraterie, Völkerrecht und internationalen Beziehungen in der frühen Neuzeit untersucht werden. Kritisch überprüft wird zunächst die bis in die jüngste Forschung prominente, auf Arbeiten vor allem von Gustav Adolf Rein und Carl Schmitt zurückgehende Behauptung, im 16. und 17. Jahrhundert seien die Weltmeere außerhalb Europas – jenseits einer gedachten Linie – zum rechtsfreien Kampfplatz europäischer Nationen erklärt worden. Im zweiten Teil geht es um die Konstituierung der Völkerrechtsgemeinschaft durch die Ausgrenzung des Piraten als Feind der Menschheit („hostis humani generis“). Anhand von Piratenprozessen wird untersucht, wie dieses völkerrechtliche Pirateriekonzept in der Rechtspraxis Anwendung fand. Strukturelle Analogien zwischen der völkerrechtlichen Behandlung von historischer Piraterie und heutigem internationalen Terrorismus sollen in diesem Zusammenhang angesprochen werden.

Der dritte Teil behandelt im Rahmen verschiedener Fallstudien Kaperei und Piraterie als Medium internationaler Beziehungen. Im Mittelpunkt steht dabei die „Piraten-Runde“ im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert als Phänomen global vernetzter Seeraubaktivitäten. Im abschließenden Teil wird der Zusammenhang von Piraterie und politischer Souveränität untersucht. Die Frage nach dem Unterschied zwischen einer illegitimen (See)-Räuberbande und einer legitimen politischen Gemeinschaft gehörte zu den Grundsatzproblemen des frühneuzeitlichen Völkerrechts. Der Umgang mit diesem Problem soll anhand der Auseinandersetzung mit angeblichen „Piraten-Republiken“ in der Karibik oder auf Madagaskar sowie den so genannten „Barbaresken-Piraten“ Nordafrikas diskutiert werden. Hinzu kommen Beispiele der Thematisierung des Piraterievorwurfs als Mittel zur Delegitimierung politischer Widerstandskämpfer und zur Rechtfertigung internationaler Polizeiaktionen. Der Abschluss bildet eine Analyse der im frühen 19. Jahrhundert auftauchenden Kontroverse über das Verhältnis von Piraterie und Völkerrecht. Eine Kontroverse, die an den Fundamenten des Völkerrechtsbegriffes selbst rüttelte.