Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Reichsverwandlungen

Ästhetische Modelle politischer Transnationalität in der deutschen Literatur 1800–1945

PD Dr. Uwe Hebekus

Abstract

Das Projekt hat Modelle der ästhetischen Transformation des Reichsgedankens zum Thema, wie sie während des 19. und 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum als Alternative zur dominanten politisch-kulturellen Orientierung an der Leitgröße ‚Nation‘ entwickelt werden.

Historisch-systematischer Einsatzpunkt der geplanten Studie ist der Sachverhalt, dass das Ordnungsmodell der Nation in der Periode seiner höchsten politischen – und nicht zuletzt symbolpolitischen – Popularität während des ‚langen 19. Jahrhunderts‘ und darüber hinaus in eine gleich doppelte Asymmetrie gespannt ist. Zum einen sehen sich die (kontinental-)europäischen Nationen im Zuge von Kapitalismus, Kolonialismus und Medien(r)evolutionen Strömen von Geld, Waren/Dingen, Zeichen und Menschen ausgesetzt, welche die Grenzsetzungen der als körperhaft gedachten nationalen Gebilde nachhaltig irritieren.

Zum anderen statten sich diese Nationen zu einem guten Teil mit einem politischen Imaginären aus, das sie über sich selbst hinaus weist. So überschießt beispielsweise der Universalismus der französischen Verfassung in seiner semantischen Extension seinen eigentlichen Referenten, indem er eben nicht nur die französische Nation adressiert, sondern der Tendenz nach die ‚Menschheit‘ insgesamt. Beides sorgt dafür, dass gleichsam auf der Kehrseite des Ordnungsmodells ‚Nation‘ Entwürfe von Transnationalität entstehen, welche die Nation als zentrale Bezugsgröße des Politischen und des Kulturellen programmatisch verabschieden wollen, wobei an die Stelle dieser Bezugsgröße politische Großgebilde treten sollen, die als hegemonial strukturiert gedacht werden.

Für den deutschen Zusammenhang, dem – mit einer Reihe komparatistischer Seitenblicke – das Hauptaugenmerk des Projekts gilt, bedeutet dies, dass auch und gerade nach dem Ende des Alten Reiches (1806) eine translatio imperii als dringliche Aufgabe empfunden wird, wobei das Alte Reich solchen translatio-Wünschen als Typus eines politisch-kulturellen ‚Pluriversums‘ gilt. Genau darin liefert es die Strukturvorgabe eines politischen Denkens, das den Grenzsetzungs- und Zentralisierungsoperationen des Ordnungsmodells ‚Nation‘ entgegentritt.

Für die Modelle, die das Untersuchungsfeld des Projekts abgeben, gilt durchweg, dass sie an die Stelle der ‚Nation‘ Entwürfe einer kulturellen Transnationalität rücken, welche nicht auf einen Wesenskern oder auf einen statischen Wertekanon zentriert, sondern als Formprinzip ästhetischer Kommunikation ins Werk gesetzt werden soll.

Eine ebenso frühe wie markante Station hierfür ist das politische Denken Johann Wolfgang Goethes. Dieses Denken schreibt den traditionellen Reichs-Topos „Einheit in der Vielfalt“ und die gleichfalls traditionelle Rede vom Reich als einem corpus irregulare in ein ästhetisch-politisches Programm von Kommunikation um. Es wendet dabei das Prinzip der Metamorphose, das Goethe in seinen naturwissenschaftlichen Schriften entfaltet hatte, ins Kultursemiotische: Interkulturelle und transnationale Kommunikation wird als relational organisiertes Funktionssystem einer a-teleologischen und unausdenkbaren Verwandlung verstanden, das sich über Operationen des Sonderns, Umbildens, Unterscheidens, Ausscheidens, Steigerns reproduziert.

Von daher erscheint Goethes politisches Projekt einer translatio imperii als Versuch, die kulturelle Identität Europas nicht auf Konsens, sondern auf Dialog zu programmieren, ‚Dialog‘ im Sinne eines Ineins von Vereinigung und Auseinander-Setzung. Goethes politisches Denken rückt damit in eine ganze Reihe von Versuchen im 19. und 20. Jahrhundert, Europa post-essentialistisch und als diskursive und dynamische Prozessgröße zu entwerfen.

Die geplante Studie will diese Reihe u. a. anhand folgender Beispiele in den Blick nehmen: Goethes politisches Denken im Vergleich mit essayistischen Texten der Politischen (Früh-)Romantik, die sich einer nicht-national ausgerichteten politischen Programmatik verschreiben (Friedrich Schlegel); Romane des literarischen Realismus, welche die Globalisierungswelle am Ende des 19. Jahrhunderts verhandeln (Theodor Fontane, Wilhelm Raabe); Thomas Manns und Rudolf Borchardts ‚Deutschland‘- als ‚Europa‘-Diskurs; ästhetische Entwürfe politischer Großräume aus der Zeit des Nationalsozialismus (Gottfried Benn, Ernst Jünger, Carl Schmitt).

Mit all dem versteht sich das Projekt jedoch nicht nur als Versuch einer historischen Rekonstruktion. Vielmehr hat es zugleich einen aktualisierenden Fluchtpunkt. Es ist nämlich zu fragen, ob und inwiefern die translatio-Projekte, welche die Gegenstände der geplanten Studie abgeben, als genealogische Vorstufe von aktuellen Versuchen gesehen werden können, Europa als Diskurs-Figur aufzufassen (Massimo Cacciari, Jacques Derrida, Bo Stråth).

Damit stellt sich die – politisch sicher brisante – Frage, ob nicht ein Europa, das sich post-essentialistisch als einen Raum kultureller ‚Verdichtung‘ denkt und entwirft, auf das politisch-kulturelle Ordnungsmodell ‚Reich‘ rückverwiesen ist.