Re-Präsentationen des Boxerkriegs, 1900-1901
Imperialistische Intervention in China als transnationales Medienereignis
Abstract
Das vorliegende Projekt untersucht die Mediendiskurse über den Boxerkrieg von 1900/1901 anhand von Presseerzeugnissen aus fünf der an dem Krieg beteiligten alliierten Staaten (dem Deutschen Reich, Frankreich, Großbritannien, Österreich-Ungarn und den USA) sowie aus China einschließlich der chinesischen Diaspora. Es geht der Frage nach, auf welche Weise dem Kriegsgeschehen durch unterschiedliche Medienproduzenten ein je spezifischer Sinn unterlegt wurde. Mittels dieser transnationalen Perspektive sollen die den unterschiedlichen Deutungsschemata zu Grunde liegenden Identitätskonstruktionen offen gelegt werden.
Der Begriff des Medienereignisses wird im Rahmen des Projekts mit einer doppelten Stoßrichtung verwendet. Er soll zum einen deutlich machen, dass die mediale Re-Präsentation menschlichen Handelns unbeschadet dessen ontologischer Qualität eine eigene Realitätsebene mit spezifischer sozialer Relevanz konstruiert; eine Realität, die von dem berichteten Handeln nicht völlig unabhängig gedacht werden kann, dieses aber auch nicht einfach abbildet. Zum anderen wird das Ereignis als überraschend und grundsätzlich ausgangsoffen gedacht. Dem entspricht eine grundsätzliche Offenheit des medialen Narrativs, das sich durch die Verarbeitung neuer Informationen in ständigem Fluss befindet. Damit gewinnt die zeitliche Dimension unmittelbare Bedeutung für die Analyse, da die jeweiligen Sinnkonstruktionen vom Verlauf der Kriegshandlungen und dessen Wahrnehmung beeinflusst werden.
In theoretisch-methodischer Hinsicht ist die Untersuchung von der Diskursanalyse inspiriert. Doch sollen die medialen Diskurse in zweierlei Hinsicht an soziale Kategorien rückgebunden werden. Erstens soll in Übereinstimmung mit neueren medientheoretischen Ansätzen die Materialität der Medien ernst genommen werden. Zu dieser Materialität gehören die technischen Apparaturen, die seit dem späten 19. Jahrhundert eine Kommunikation in globalem Maßstab ermöglichten und gleichzeitig auch die Darstellungsform bestimmten. Ebenso ist die auf Aktualität und Periodizität zielende Erscheinungsweise von Zeitungen und Zeitschriften hinzuzurechnen. Beides, Technik und Produktion, sind Ergebnisse sozialer Aktivitäten. Zweitens geht die Untersuchung von der Voraussetzung aus, dass Diskurse (und ihre beständige Reartikulation) eines der Mittel sind, durch das sich soziale Gruppen imaginieren und so erst eigentlich konstituieren. Die modernen Massenmedien erscheinen so als eine Bühne, auf der unterschiedliche Identitätsdiskurse zusammentreffen und in einer komplexen und konfliktreichen Konstellation miteinander interagieren.
Auf der Grundlage dieser Vorannahmen wird die Re-Präsentation des Boxerkrieges durch ein mediales Netzwerk untersucht, mit dessen Hilfe Informationen über globale Distanzen hinweg hin- und hergeschoben wurden. Für die europäischen Staaten sowie die USA haben erste Untersuchungen bereits gezeigt, dass durch die Bezugnahme auf ausländische Nachrichten ein transnationaler Referenzrahmen entstand, innerhalb dessen die Vorgänge in China kommentiert wurden. (Inwieweit chinesische Zeitungen hier einbezogen waren oder ihrerseits unter Einschluss der chinesischen Diaspora ein paralleles Referenzsystem existierte, ist noch zu prüfen.)
Innerhalb des genannten Referenzrahmens wurden in der Positionierung zum Boxerkrieg auf unterschiedlichen Ebenen soziale Räume mit je spezifischer Identität konstruiert und gegeneinander abgegrenzt: der „Westen“ versus China, einzelne Nationen, aber auch weltanschauliche, politische, professionelle und soziale Milieus (die Boxer, Militärs, Kaufleute und Unternehmer, Pazifisten, christliche Zirkel, Arbeiter etc.). Diesen Abgrenzungen lagen unterschiedliche und oftmals miteinander konfligierende Diskursmuster zugrunde: In der Sorge um die in Lebensgefahr befindlichen Ausländer in China brachen sich auf westlicher Seite Angstphantasien über einen Zusammenbruch der imperialen Ordnung Bahn; zugleich wurde je länger je mehr der mangelnde Respekt Chinas vor den Normen des Völkerrechts zum Kriterium eines Gegensatzes zwischen der solidarischen „zivilisierten“ Welt und dem isolierten „barbarischen“ China erhoben. Die Ausschreitungen der alliierten Truppen in China verkehrten aus Sicht der Kriegsgegner diesen Barbarendiskurs in sein Gegenteil und führten andererseits zu einem Wettstreit, welche Nation sich mit Recht als die zivilisierteste bezeichnen dürfte, der wiederum von nationalen Stereotypen geprägt war. Missionare und „der Kapitalismus“ wurden für den Ausbruch der Boxerbewegung und damit der Unruhen in China verantwortlich gemacht; gleichzeitig artikulierten die Missionare als Einzige Empathie mit einem Teil der chinesischen Bevölkerung (den Christen, die wie sie selbst von den Boxern verfolgt wurden). Anhand des untersuchten Materials soll geklärt werden, inwieweit diese Diskursmuster die soziale Integration auf nationaler bzw. transnationaler Ebene förderten bzw. verhinderten. Außerdem soll die langfristige Wirkung in den Blick genommen und unter Rückgriff auf bereits publizierte Forschungsergebnisse die Frage gestellt werden, inwieweit die zeitgenössischen Mediendiskurse die öffentliche Erinnerung an den Boxerkrieg in den alliierten Staaten und in China präfigurierten.