Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Völkerpsychologie, Wirtschaftsstil und jüdische Kollektivität: Nationalökonomische Debatten um 1900

Dr. Nicolas Berg

Abstract

Das Forschungsvorhaben ist als Kritik der Ideen- und Mentalitätsgeschichte des Antikapitalismus konzipiert und verbindet entsprechende wissenschafts-, ideologie- und diskursgeschichtliche Fragestellungen. Es unternimmt den Versuch, völkerpsychologisch ausgerichtete Kollektivtheorien in der deutschsprachigen Nationalökonomie über Entstehung und Verbreitung des modernen Kapitalismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Rezeptionsgeschichte dieser Theorien zu untersuchen. In der Gesamtausrichtung der Arbeit steht nicht die Wirtschaft an sich, sondern ihre gleichsam kulturell-theoretische Potenz oder „Kulturalisierung“ als Denkstil und Denktypus im Fokus – und damit einhergehend eine spezifische Politisierung des ökonomischen Denkens, das etwa mit dem Begriff des „Wirtschaftsstil“ kollektiv begründete Grenzziehungen im sozialökonomischen Feld vornimmt. Das Thema ist als paradigmatischer Fall in einer dramatischen Epoche konzipiert: Am Beispiel der langen Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Werks von Werner Sombart, das in besonderer Weise diese Positionen aufgenommen und seither immer wieder Kontroversen ausgelöst hat, soll untersucht werden, warum und mit welchen Argumenten in der akademischen wie außerakademischen Öffentlichkeit die Ideologie eines vermeintlich „jüdischen Kapitalismus“ entstand und über einen langen Zeitraum hinweg persistent blieb.

Das Vorhaben widmet sich den ökonomisch-materialistischen Bildstereotypen, die die Juden nicht nur als Nutznießer der von ihnen zuvor abgeforderten Integrationsleistung, sondern als kulturelle Verursacher des kapitalistischen Zeitalters beschrieben haben, von dem – wie Hans-Ulrich Wehler einmal pointiert schrieb –, „Millionen Deutschen eine denkbar pessimistische, sogar feindselige Vorstellung“ hatten.  Diese Wahrnehmung, die im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert mit dem Anbruch der Industriellen Revolution beginnt, mit der Kapitalismuskritik von Karl Marx einen ersten Höhepunkt und in Sombarts Buch Die Juden und das Wirtschaftsleben (1911) ihre klassische Ausformulierung erfahren hat, wird im Projekt als Teil einer Diskursgeschichte gedeutet, in der Ökonomie in zwei scheinbar konträre politische Kulturen zerfiel. Die diasporischen Besonderheiten jüdischer Lebenswelten, vor allem ihre transnationale und transterritoriale Nichtstaatlichkeit, wurden dabei a priori als „falsch“, zumindest aber „defizitär“ und immer wieder als „unnatürlich“ oder „künstlich“ verstanden; diese Wertung bezog sich auf die vermeintlich grundständig andere Form des modernen Wirtschaftens, so dass Judentum und Kapitalismus in den entsprechenden einschlägigen Lehrwerken und Grundlagenbüchern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gleichsam zusammen wahrgenommen wurden.

In der Nationalökonomie, so die Hypothese des Projekts, verdichteten sich im Untersuchungs­zeitraum somit in einer besonders prägnanten Weise Fragen an die Moderne angesichts der realen und symbolischen Bedeutung ihrer jüdischen Anteile. Das Vorhaben geht deshalb sowohl der Frage nach, wie in der deutschsprachigen ökonomischen Theoriebildung unter negativen politischen Vorzeichen Juden Modernisierungsfunktionen in Wirtschaft und Gesellschaft zugeschrieben wurden, als auch die Reaktionen von jüdischen Wissenschaftlern, Gelehrten und Intellektuellen auf diese Zuschreibungen. Dabei stehen hier wie dort vor allem die diskursiven Bilder im Zentrum des Erkenntnisinteresses, das insgesamt einen Denkstil zu entschlüsseln versucht, in dem ‚jüdisch‘ in entsprechenden Quellentexten häufig zu einer negativen Metapher für die Moderne insgesamt wurde.