Das Weltkultur- und Naturerbe der UNESCO
Kosmopolitisierung des kulturellen Gedächtnisses
Abstract
Das Welterbe-Programm der UNESCO war Teil der Diskussion über die globalen Gemeinschaftsgüter, die in den 1960er Jahren als Global Commons weltweit auf die tagespolitische Agenda rückten. Im Mittelpunkt des Interesses standen eine globale Bevölkerungspolitik, Umweltverschmutzung und globaler Umweltschutz, Vereinbarungen über die Nutzung der Ressourcen des Meeres, der Antarktis und des Weltraums und eben der Schutz des Kultur- und Naturerbes der Menschheit. Kaum eines der Felder war, als es zum globalen Gut deklariert wurde, neu auf der internationalen politischen Bühne: Der Zugang zu natürlichen Ressourcen, der Schutz von Natur und Umwelt, die Bewahrung und Musealisierung kultureller Artefakte und die internationale Verrechtlichung von Kultur-, Wissens- und Informationsgütern beschäftigten Experten, Betroffene und Staaten bereits seit der Jahrhundertwende.
Durch das Label „Gemeinsames Erbe der Menschheit“, das als Anspruch und Legitimationsfigur fungierte, weitete sich jetzt allerdings das Spektrum der Akteure, und die Gemeingüter erhielten eine neue Qualität. In der Auseinandersetzung mit den Global Commons nahm zugleich der Globalisierungsdiskurs insgesamt Formen an. Seine spezifischen Problemfelder wurden benannt und Lösungskonzepte entwickelt. Zu nennen sind hier das Spannungsverhältnis zwischen dem Lokalen und dem Globalen, die Angst vor dem Verlust kultureller Spezifika und dem „Aussterben“ lokaler Traditionen, die Furcht vor grenzüberschreitender, globaler Umweltzerstörung, das Bedürfnis nach Global Governance und eine neue Qualität des Umgangs mit Wissen und Informationen.
Das 1972 begründete Weltkultur- und Naturerbe-Programm der UNESCO war gleichzeitig Ausdruck und Instrument dieses Prozesses, der sich auf globaler, internationaler, nationaler und lokaler Ebene vollzog. Die Bewahrung von Kultur- und Naturschätzen als „Welterbe“ zielte nun auch darauf, einen weltweiten Wissensspeicher allen Lebens auf der Erde anzulegen und „Wissen“ als Ressource nutzbar zu machen.
Die UNESCO wurde so zu einer Arena, in der die verschiedenen nationalen Regierungen miteinander konkurrierten, organisierte Interessengruppen und Experten Einfluss zu nehmen suchten, lokale Bevölkerungsgruppen ihre Positionen platzierten und die in den Abteilungen der UNESCO Verantwortlichen ihre jeweiligen Politiken verfolgten. Die Entscheidung für oder gegen eine Welterbestätte war so gleichzeitig eine Bewertung der mit ihr verknüpften unterschiedlichen Wissensbestände und Wissenssysteme, die auf eine universelle Qualität geprüft wurden. Außerdem wurde eine Aussage über den Wert der jeweiligen kulturellen Leistung getroffen. Beides beinhaltete Zündstoff.
Um die aus dieser Konstellation erwachsenden Konflikte zu erklären, ist es notwendig zu fragen, wie die „Welt“ und die „Menschheit“, deren Erbe geschützt werden sollte, jeweils umrissen wurden. Welche Rolle spielten Differenzierungen nach Weltregionen, Nationalstaaten und lokalen Zusammenhängen? Welchen Wissens- und Glaubenssystemen wurde Relevanz zuerkannt? Führte die Verpflichtung auf die wissenschaftlichen Standards der Archäologie, des Denkmalschutzes und der Ökologie dazu, dass Wertmaßstäbe und Vorstellungen einer europäischen Wissenschaftstradition das Welterbe-Programm prägten? Welchen Einfluss erlangten Transfers und Übersetzungen aus dem europäischen Kontext stammender Begriffe, Werte, Deutungen und Institutionen? Umgekehrt muss erkundet werden, inwieweit die Aufwertung, die in den 1970er und 1980er Jahren indigenem und populärem Wissen zuteilwurde, und die damit einhergehende Pluralisierung der Wissenssysteme sich auch im Welterbe-Programm niederschlug.
Exemplarisch wird analysiert, wer mit welchen Zielen und unter welchen Bedingungen mit dem Welterbe-Programm der UNESCO eine globale, nationale oder lokale Politik verfolgte. Welche Konflikte entstanden bei der Definition und Pflege des Welterbes? Welche Akteure waren daran beteiligt? Welche Interessen verfolgten sie und welche Vorstellungen von Zeit und Raum waren für sie handlungsleitend? Wie wurden Konflikte ausgetragen? Und welche Konsequenzen hatte die Erhebung zur Welterbestätte für die jeweilige konkrete Erbestätte? Veränderte sich der lokale gesellschaftliche Umgang und ging in einer neuen, globalen Praxis auf? Wenn ja: Wie ging diese Transformation der Kultur- und Naturerbes in ein globales Politikfeld vor sich?
Publikationen
Herausgeberschaft zusammen mit Isabella Löhr: Global Commons im 20. Jahrhundert. Entwürfe für eine globale Welt. Jahrbuch für Europäische Geschichte 15 (2014). Volltext (Open Access)
Andrea Rehling: „Kulturen unter Artenschutz“? – Vom Schutz der Kulturschätze als Gemeinsames Erbe der Menschheit zur Erhaltung kultureller Vielfalt, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 15 2014, 109-137. Volltext (Open Access)