Protektion und Souveränität
Die Entwicklung neuer imperialer Herrschaftsformen und Legitimationsfiguren im 19. Jahrhundert
Abstract
Während der Blütezeit des Imperialismus im 19. Jahrhundert erstreckten sich europäische Imperien über nahezu den gesamten Globus. Wie jeder Staat mussten auch Weltreiche ihre Herrschaftsansprüche sowohl gegenüber Beherrschten als auch gegenüber der internationalen Gemeinschaft legitimieren. Diese Aufgabe gestaltete sich bei Imperien aufgrund ihrer Heterogenität und Ausdehnung besonders komplex. Zentrale Legitimationsstrategien waren universalistische Ideologien wie die Pax Britannica oder Pax Franca, die Schutz für die Einordnung in ein imperiales System versprachen. Diese Schutzversprechen gegenüber fremder oder eigener Untertanen wurden auch häufig zur Begründung imperialer Interventionen verwendet, wobei das Verhältnis von Schutz zur Souveränität der betroffenen Staaten besonders komplex war.
Schutzversprechen sind unter anderem deshalb interessant, weil ihre Existenz im Widerspruch zur traditionellen Ideengeschichte der Souveränität steht. Völkerrechtliche Verhältnisse dieser Art sind von vornherein als Beziehung zwischen Ungleichen angelegt und mit der Idee einer Egalität zwischen Staaten zwangsläufig unvereinbar, denn sie begründen ein Verhältnis zwischen einem mächtigen Schutzherren und einem weniger mächtigen Schutzbedürftigen. In vielen Fällen geriet der Geschützte sogar in die völlige Abhängigkeit zu seinen Schutzherren und wurde außenpolitisch ausschließlich durch diesen repräsentiert. Dieses Spannungsfeld gewann noch zusätzlich an Brisanz, da jeder internationaler Schutzvertrag formal die Staatlichkeit des betroffenen politischen Gebildes anerkannte, seine Souveränität allerdings gleichzeitig einschränkte. Vollständige Souveränität galt jedoch in den philosophischen, und später in den staatsrechtlichen Konzeptionen, als notwendige Voraussetzung für Staatlichkeit. Dadurch entstand ein Spannungsfeld, das diese Dissertation näher untersuchte.
Der Fokus der Arbeit liegt auf Phänomenen zwischen direkter und indirekter Herrschaft, der viele völkerrechtliche Status miteinschloss. Diese verschiedenen Herrschaftsphänomene werden unter dem Begriff der ‚Protektion‘ zusammengefasst. Als Protektion wird in der Dissertation jede Form imperialer Einflussnahme verstanden, die auf einem Schutzanspruch basiert. Diese umfasst sowohl den politischen Schutz von Personen und Gruppen in fremden Territorien, als auch territoriale Herrschaft. Die in der Arbeit betrachteten territorialen Schutzformen sind permanente Okkupationen und Protektorate.
Die Merkmale von Protektion als gesamteuropäisches Phänomen wurden anhand von Materialen aus zwei Imperien herausgearbeitet, dem britischen und dem österreichisch-ungarischen. Diese Auswahl erfolgte aus vier Gründen:
- Akteure aus beiden politischen Gebilden prägten die zentralen Wendepunkte der Entwicklung von Schutzherrschaft.
- Beim Britischen Empire handelte es sich um das am tiefsten in die Schutzherrschaft verstrickte Imperium.
- Bei der Auswahl handelt es sich um ein Kontinental- und ein Überseeimperium, wodurch gezeigt wird, dass diese Protektion in beiden Imperientypen auftrat.
- Beide Imperien agierten im osmanischen Raum und übten ihre Schutzherrschaft auf osmanische Gebiete aus, deren früherer politischer Kontext ähnlich war.
Anhand osmanischer Territorien, wie den Ionischen Inseln, wurde die Entwicklung von Schutzverträgen analysiert, die sich als diskontinuierlich erwies. Ständige Neuverhandlungen verbunden mit Bedeutungsverschiebungen prägten diese Entwicklung, wobei jede Form der Schutzherrschaft ein Unikat blieb. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit lassen sich jedoch generelle Tendenzen in der Entwicklung ausmachen, die anhand der miteinander verbundenen Fallbeispiele Zypern und Bosnien-Herzegowina gezeigt wurden. Die Analyse erfolgte mittels archivalischer Quellen aus den beiden Ländern sowie den verwaltenden Imperien und Völkerrechtsdokumenten und Publikationen. Ergänzt wurde diese Beobachtung durch Sekundärliteratur zu den einzelnen Protektoraten in Tunesien und Ägypten, welche die Ergebnisse durch weitere Gemeinsamkeiten untermauerten.
Anhand dieser Fallstudien analysiert die Arbeit die Besonderheiten dieser mannigfaltigen Formen von ‚Schutz‘ und ‚Protektion‘ und zeigt generelle Entwicklungslinien auf. Der Analysezeitraum fokussiert sich auf das lange 19. Jahrhundert, da in dieser Epoche eine verstärkte Verrechtlichung von politischen Klientelverhältnissen festzustellen ist. Hierbei liegt der Schwerpunkt auf Phänomenen aus dem Bereich der internationalen Beziehungen und des Völkerrechts.
Diese Arbeit folgt den Entwicklungslinien von Protektion über die leitende Frage, wie sich der völkerrechtliche Status von besetzten und fremdverwalteten Territorien und Protektoraten entwickelte. Diese breitangelegte Problemstellung wird anhand von vier spezifischen Fragen konkretisiert:
- Welche Theorie lag den politischen Formen der Schutzherrschaft zugrunde und wie verhielt sich dieses theoretische Konzept zur Herrschaftspraxis?
- Was waren die zentralen Entwicklungsschritte des Phänomens der Protektion und welchen Konjunkturen war der völkerrechtliche Status des ‚Protektorates‘ unterworfen?
- Trugen die politischen Strukturen in einem Protektorat dazu bei, dass die Bevölkerung die Herrschaft akzeptierte?
- Worin unterschied sich die Praxis der verschiedenen Imperien und inwieweit waren diese an internationales Recht gebunden?
Alle gestellten Fragen berühren Themen aus den Bereichen Bürokratie, Souveränität, Legitimität oder Völkerrecht. Diese stehen in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis, haben zugleich die Schutzherrschaft des 19. Jahrhunderts geprägt und erhielten selbst zentrale Impulse durch die neu entstandenen Schutzphänomene. Die Dissertation stellt daher die Verschränkungen dieser einzelnen Bereiche im Sinne einer Verflechtungsgeschichte in den Mittelpunkt.
Zur Analyse von Protektion vereint die vorliegende Arbeit verschiedene Forschungsbereiche: Eine Ideengeschichte wird mit der Forschung zum Kolonialismus des 19. Jahrhunderts und zum internationalen Recht kombiniert. Gleichzeitig werden vier nationalhistorische Kontexte sowie die zugehörigen Imperien vergleichend betrachtet, sodass sich auch methodisch eine multi- bzw. transnationale Perspektive ergibt. Prozesse und Strukturen der Protektionen können nicht ausschließlich auf nationaler, diplomatischer oder lokaler Ebene analysiert werden. Vielmehr bedarf die Untersuchung einer Perspektive, die mit mehrfacher Anpassung des Maßstabes, Zeitraumes und variierenden Akteuren das gesamte Phänomen untersucht. Das Ergebnis ist ein differenziertes Verständnis der Genese völkerrechtlicher Figuren sowie von imperialen Legitimationsstrategien im internationalen Kontext.
Die Ergebnisse der vorgenommenen Untersuchung zeigen deutlich, dass der völkerrechtliche Status des Protektorates zahlreiche Konsequenzen hatte und nicht nur tatsächliche Machtverhältnisse verschleiern sollte. Der Schutzvertrag reduzierte die Handlungsoptionen imperialer Beamter und Politiker und schützte lokale Institutionen. Durch juristische Auslegungen erhielten solche Verträge das Potential, koloniale Reformprojekte zu blockieren und wurden doch häufig als politische Form gewählt. Die Vagheit des Status im Völkerrecht und damit seine freien Interpretierbarkeit, sowie die Möglichkeit über den Status anderer völkerrechtlicher Einschränkungen zu umgehen, machten das Protektorat attraktiv und führte jedoch zugleich zu ständigen Neuverhandlungen über die Bedeutung von Protektion.