Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Die europäische Entdeckung der beschränkten Staatssouveränität

Die Suche nach außenpolitischer Autonomie im Zeichen des globalen Kalten Krieges. 1967–1973

Francesco Carloni

Abstract

Das Projekt geht von einer globalgeschichtlichen Lesart des Kalten Krieges aus, welche die zwischenstaatlichen Beziehungen der zweiten Nachkriegszeit nicht auf lokale Spiegelungen vom globalen Wettlauf beider Supermächte reduziert. Ein erstes Ziel der Dissertation ist die Hervorhebung des weltpolitischen Paradigmenwechsels, den die Politik der Entspannung in den 1960ern in der Struktur des globalen Kalten Kriegs herbeiführte. Der angewendete Entspannungsbegriff fokussiert weniger auf die diplomatischen Annäherungsversuche beider Supermächte als vielmehr auf die (vor allem unerwarteten) Folgen für die außenpolitische Handlungsautonomie der anderen weltweiten Akteure. Zugleich liegt der Schwerpunkt der Analyse nicht auf den humanitär-politischen Zwecken ('friedliche Koexistenz' bzw. 'Strategie des Friedens') oder militärischen Vorbedingungen ('mutual assured destruction', M.A.D.) der Entspannung, sondern auf der machtpolitischen, durch beide Supermächte geteilten Zielsetzung, Widerstand gegen den Machterwerb anderer Akteure zu leisten.

Die Entspannung als Kontext der Erweiterung von außenpolitischen Spielräume 'peripherer' Akteure: der Sechs-Tage-Krieg von 1967 als Beispielfall eines Paradigmenwechsels

Die Arbeit bietet eine Konzeptualisierung der Politik der Entspannung zwischen beiden Hauptkontrahenten, wonach die Détente die Erschließung neuer außenpolitischer Spielräume zur strategischen Definition regionaler Zielsetzungen und deren militärischen sowie diplomatischen Verwirklichung mit sich brachte. Der Paradigmenwechsel soll im Lichte der israelischen Haltung im Sechs-Tage-Krieg exemplifiziert werden. Die Außenpolitik Israels und Ägyptens ging von einer strategischen Reflexion über die neuen Kräfteverhältnisse zwischen den USA und der UdSSR aus. Der Kalte Krieg erweist sich also als formale Ursache lokaler 'peripherer' Konflikte. Die Originalität dieser Deutung zeigt sich umso mehr, wenn man sie mit dem Großteil der bisherigen Historiographie kontrastiert, wonach der Nahost-Konflikt als eine vom globalen Wettlauf der Mächte und Systeme relativ unabhängige Dynamik aufgefasst wird.

Dabei gilt der Begriff der formalen (entgegen einer wirkenden) Ursache als zentrales analytisches Instrument der Studie. Die geschichtswissenschaftliche (Re-)Konstruktion formaler Kausalzusammenhänge erlaubt es, den 'breitesten Horizont' bzw. weltpolitischen Kontext zu identifizieren, in dem die subjektiven Erwartungen der Akteure Gestalt annahmen. Denn diese Erwartungen waren es, die ihre Zielsetzungen und Erwägungen bedingt haben. Die Verhältnisse zwischen beiden Supermächten verursachten diese Erwartungen, bestimmten sie aber nicht.

Die beschriebene erkenntnistheoretische Wahl strebt das Verständnis der Aneignungsstrategien einer machtpolitisch übergeordneten Wirklichkeit an, deren ‚konkrete‘ Struktur und ‚objektive‘ Charakteristika weniger relevant sind als die (nicht zuletzt prognostischen!) Erzählungen, durch welche die einzelnen Akteure sie einschätzen und interpretieren. Als übergeordnet wird diese (nicht objektivistisch aufgefasste) Wirklichkeit definiert wegen des (zumindest theoretisch) nur beschränkten Beitrags zur Gestaltung der weltpolitischen Realität durch die ‚peripheren‘ Akteure. Dies impliziert jedoch nicht das Unvermögen dieser Handelnden, die grand strategies beider Supermächte zu beeinflussen.

Die Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland

Untersucht wird zuletzt, inwiefern die militärischen Wechselfälle von 1967 in der außenpolitischen Reflexion der BRD zur Zeit der Anfänge der Ostpolitik thematisiert wurden. Viel eher als eine weitere Interpretation der Ostpolitik der Regierung Brandt bzw. ein historisches Urteil über deren programmatische Ausgangspunkte sowie Ergebnisse zu leisten, soll die Arbeit auf der Basis der in der Dissertation angebotenen Lesart des Sechs-Tage-Kriegs die Hypothese eines politischen Kulturtransfers überprüfen. Das Projekt soll also anhand archivalischer Quellen (vornehmlich der westdeutschen und US-amerikanischen Diplomatie) feststellen, ob die Initiative der Regierung Brandt von einer durch Episoden des globalen Kalten Kriegs der 1960er Jahre geleiteten Reflexion über die breiter gewordenen Handlungsspielräume der eigenen Außenpolitik unterfüttert wurde. Insbesondere soll sondiert werden, welche Rolle die israelische Haltung im und der Ausgang des israelisch-arabischen Kriegs von 1967 in dieser Überlegung gespielt haben.