Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Bürokratien und ihre institutionellen Inkonsistenzen

Prof. Dr. Arthur Benz

Abstract

Der Bürokratiebegriff erfasst Verwaltung als Herrschaftsform. Anders als dies ältere Theorien zum Ausdruck bringen, kennzeichnet eine Bürokratie heute nicht nur ein an Regeln gebundener Betrieb oder die Übermacht der Beamten über die Politik, vielmehr verweist der Begriff auf Herrschaft in einem intern differenzierten Interorganisationsgefüge der Verwaltung, das in gesellschaftliche Kontexte eingebettet ist.

Differenzierung und Außenbeziehungen von Bürokratien verändern die Herrschaft und erhöhen die Veränderungsdynamik. Hinsichtlich der internen Differenzierung betont die klassische Bürokratietheorie die Über- und Unterordnung in der Hierarchie. In der heutigen Verwaltungsrealität trifft jedoch das Befehlsmodell nicht mehr zu, Hierarchie ist vielmehr als funktionale Differenzierung zu verstehen. Das Verhältnis von ausführenden Behörden zu Leitungs- und Kontrollorganen ist durch Kooperation, Monitoring und Rechtsfertigungsdiskurse gekennzeichnet. Auch die sektorale Differenzierung impliziert keine Hierarchie, sondern "horizontale" Koordination zwischen interdependenten Verwaltungsbereichen. Darüber hinaus entstehen zunehmend "föderale" Mehrebenenstrukturen, also vertikale Ausdifferenzierungen von Verwaltungsebenen, die sich nicht in einem Über-Unterordnungsverhältnis befinden, sondern formal oder faktisch gleichgeordnet interagieren. Man findet sie vor allem in internationalen bzw. international tätigen staatlichen Verwaltungen. Diese Differenzierungsprozesse geben Anlass, den Bürokratiebegriff neu zu bestimmen.

Will man den Herrschaftscharakter der Bürokratie erfassen, sind externe Beziehungen zu gesellschaftlichen Akteuren zu beachten. Im modernen Staat richtet sich Verwaltung nicht mehr an Untertanen oder Adressatem, denen man Folgebereitschaft unterstellen kann, sondern an Bürger, Kunden oder Ko-produzenten. Bürger verfügen über Rechte gegenüber der Verwaltung, Kunden formulieren Leistungserwartungen, für die sie Gegenleistungen erbringen, Ko-produzenten tragen mit eigenen Leistungen zur Erfüllung von öffentlichen Aufgaben bei. Beziehungen zwischen Verwaltung und gesellschaftlichen Akteuren variieren: Bürger könne Widerspruch in Form von Meinungsäußerungen in Anhörungen, Protest oder Klagen vor Gericht äußern. Kunden (in der Regel mobile Unternehmen) können nach alternativen Leistungsangeboten suchen, was Verwaltungen einem Wettbewerb unterwirft. Ko-produzenten verhandeln mit der Verwaltung über die Ausgestaltung von Leistungen.

Zwischen internen Koordinationsbeziehungen und externen Interaktionsformen können Spannungen auftreten. Zum Beispiel scheinen Proteste und Klagen dazu zu führen, dass Verwaltungseinheiten stärker zusammenarbeiten, um sich zu verteidigen, weshalb sich interne Kontrollstrukturen tendenziell in vertikale Kommunikations- und Kooperationsbeziehungen wandeln. Enge Beziehungen zwischen Verwaltungen und einer spezifischen Klientel fördern die sektorale Fragmentierung der Bürokratie, was horizontale Koordination wie politische Steuerung und Kontrolle behindert. Wettbewerb zwischen Bürokratien kann die interne Leistungsfähigkeit fördern und trägt zur Transparenz bei, erschwert aber in der Regel ebenfalls die Koordination zwischen Sektoren und die politische Steuerung. Umgekehrt führen Verhandlungen mit Ko-produzenten zu Machtverschiebungen auf die Leitungsebene und fördern Verfahren der „negativen“ Koordination. Mehrebenensysteme der Verwaltung werden intern durch Kommunikationsbeziehungen integriert, wodurch sie sich aber leicht nach außen abschotten können. In der Regel sind sie nur noch für Vertreter gut organisierter Interessen zugänglich.

Um die Funktionsweise und Eigendynamik bürokratischer Herrschaft besser verstehen zu können, sind diese Inkonsistenzen zwischen Binnen- und Außenbeziehungen genauer zu untersuchen. Hieraus lassen sich unterschiedlichen Herrschaftsmuster ermitteln. Sie sind weit weniger stabil und berechenbar, als es nach Max Webers Bürokratiemodell zu vermuten und nach Prinzipien des Rechtsstaats zu fordern wäre, weil inkonsistente Interaktionsstrukturen strategisches Verhalten der Akteure provozieren und auch erforderlich machen. Daher ist es notwendig, die hieraus resultierenden Machtdynamiken in Bürokratien zu untersuchen.

In dem Projekt soll die hier skizzierte Bürokratietheorie ausgearbeitet werden. Diese geht von einer Kritik älterer Bürokratietheorien bzw. des Public Management-Modells aus und stützt sich auf neuere Institutionentheorien. Dabei sollen exemplarisch Varianten der so verstandene Bürokratie, ihrer Inkonsistenzen und Dynamiken beschrieben und analysiert werden. Die Arbeit wird vorwiegend theoretisch-konzeptionell angelegt sein, greift aber auf Erkenntnisse der empirischen Verwaltungsforschung zurück.