Abstract
Das erste Drittel des 20. Jahrhunderts kennzeichnet eine ubiquitäre Unsicherheit geistes- und naturwissenschaftlicher Aussagen über die Welt. Henry Stuart Hughes hat dafür in seiner Pionierarbeit Consciousness and Society: The Reorientation of European Social Thought, 1890–1930 vor mittlerweile 50 Jahren einerseits die quantentheoretischen Erschütterung der klassischen mechanischen Physik sowie andererseits die vornehmlich durch sinnesphysiologische Studien und psychoanalytische Thesen vorangetriebene Auflösung einer naiven wie zugleich robusten Beziehung zwischen Subjekt, Wahrnehmung und Wirklichkeit als zentrale Ursachen haftbar gemacht. Während er das Einsickern und die Konsequenzen dieser Argumente in den (seinigen) Kanon der frühen Sozial- und Kulturwissenschaften akribisch verfolgt, bleiben bei ihm sowohl anachronistische Grenzziehungen zwischen Disziplinen unhintergehbar als auch weitere fundamentale zeitgenössische Felder der Diskussionen abgeschattet bis unerwähnt.
Aus der Beobachtung dieser methodologischen wie sachlichen Mängel und intensiven Quellenstudien ergeben sich meine basalen forschungsleitenden Interessen.
Erstens lässt sich auf inhaltlicher Ebene konstatieren, dass die Fragen nach dem Wirklichkeitsgehalt wissenschaftlicher Arbeitspraktiken, der Rolle des Forschers in diesen Prozessen und daraus potentiell resultierenden gesellschaftlichen Konsequenzen kaum beantwortet werden können ohne Berücksichtigung der intensiven wie breit rezipierten Debatten in den Lebenswissenschaften um 1900. Im Rahmen einer ‚theoretischen Biologie‘ (Reinke, Schaxel, Uexküll, Bertalanffy, ...) oder ‚Philosophie des Organischen‘ (Driesch) werden Versuche unternommen, epistemologische und methodische Spezifika der eigenen Disziplin zu identifizieren. Dabei implizieren derartige Grundlegungen stets den Aufbau von Grenzen zu anderen Fächern wie Allianzen mit oder gewissermaßen imperiale Übernahmen von benachbarten Disziplinen. Es geht hier also immer auch um nichts weniger als Gesamtentwürfe der Ordnung des Wissens.
Es finden sich zweitens dementsprechend weniger stabile disziplinäre Formationen im frühen 20. Jahrhundert, wie es Hughes weitgehend unbewusst seinen historischen Protagonisten unterstellt, als vielmehr labile, umkämpfte und regelmäßig neu zu bestimmende Abgrenzungen wie Eingemeindungen in den Quellen vor. Dieses gleichsam situationistische und poröse Verständnis der Konturen wissenschaftlicher Disziplinen, das eben nicht von heutigen Vorstellungen ausgeht, sondern im Geist der Ethnomethodologie den zeitgenössischen Akteuren selbst Reflexionsvermögen und Handlungsfähigkeit einräumt, wird einer in den letzten Jahrzehnten landläufig geforderten und zunehmend praktizierten Historisierung der Wissenschaften um 1900 sehr viel eher gerecht und ermöglicht ein tieferes Verständnis zahlreicher Positionen, die gegenwärtig als Gründerväter spezifischer Disziplinen und Interessen kanonisiert, d.h. äußerst selektiv und instrumentalistisch gelesen werden.
Schließlich charakterisiert drittens diese eng verflochtene ‚Gemengelage‘ (Gangl/Raulet) ein breites Interesse am Modus des Historischen. Die Einsicht in die Historizität der Lebensformen teilen und verhandeln zugleich Lebens- und Geisteswissenschaftler. Geschichte wird von ihnen nicht bloß durch Geschichten in Form gebracht und damit beherrschbar, sondern in bisher selten in ihrer Eigenständigkeit beachteten Visualisierungspraktiken, die sich bevorzugt tabellarischer und diagrammatischer Techniken bedienen, vor- und festgestellt. Zu guter Letzt erweist sich vor diesem Hintergrund die in ideen- und problemgeschichtlich orientierten Arbeiten anzutreffende These einer letalen Krise des historisch fundierten Fortschrittsgedankens in den ersten Dekaden des letzten Jahrhunderts als bloß bedingt gültig und überzeugend. Es sind im Gegenteil zumeist Figuren ‚progressiver Historisierung‘ (Hölscher), die in hohem Maße damalige Positionsbestimmungen dominieren und plausibilisieren.