Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Zur Geschichte der neueren Bürokratiekritik

Prof. Dr. Pascale Cancik

Abstract

I. Der Ausgangspunkt: „Bürokratiemonster“ als Wiedergänger der Moderne

Der Ausdruck „Bürokratie“ wird Mitte des 18. Jahrhunderts geprägt, in kritischer und spöttischer Absicht. Um 1800 wird der Ausdruck vermehrt aufgegriffen. In verschiedenen Wellen werden in der Folge ‚Bürokratiediskurse’ geführt und das heißt immer auch Bürokratiekritik formuliert. Das führt zu einer Versachlichung der Wahrnehmung von „Bürokratie“: Bürokratielob wird einer als überzogen bewerteten kritischen Bürokratie-Wahrnehmung gegenübergestellt. Im Anschluss daran formuliert Anfang des 20. Jahrhunderts Max Weber seine Definition von „Bürokratie“ als besonders effizienter Herrschaftsform, die seitdem die Fachwissenschaften prägt. Spätestens jetzt ist also eine Version von „Bürokratie“ in der Welt, die nicht per se als politischer Spott- oder Kampfbegriff (mit mehr oder weniger kulturpessimistischem Unterton) dient. Die kritische Intention von „Bürokratie“ wandert, so scheint es, in diesen Kontexten in die „Bürokratiekritik“, mittlerweile eine feste Überschrift in verwaltungswissenschaftlichen Einführungen. Daneben aber hält sich unverdrossen die ältere Verwendung von „Bürokratie“ als politischer Kritikbegriff, gerichtet vor allem auf öffentliche Verwaltungen.

Vorstellungen von Verwaltung und von „Bürokratie“ werden also wesentlich definiert durch eine – zumindest zwiegesichtige – Bürokratiekritik. Sie manifestiert sich häufig schlicht in der Bezeichnung von etwas als „Bürokratie“ oder „bürokratisch“. Ein  neuerer Topos dieser Art ist die „Brüssel-Bürokratie“ auf Ebene der Europäischen Union.
Diese scheinbare Konstanz von „Bürokratie“ als Beschreibung und „Bürokratie“ als Kritik ist bemerkenswert. Bleibt „Bürokratie“, was immer damit gerade beschrieben sei, und die damit verbundene Kritik unberührt vom Wandel der Staats- und Gesellschaftsformen und dem damit verbundenen Wandel der Verwaltungen? Gelingt der fachwissenschaftlichen Versachlichung des Bürokratiebegriffs keine Einhegung des Kampfbegriffs? Sind alle Reaktionen, sei es durch geänderte Verwaltungskonzeptionen sei es durch geänderte Verwaltungspraxis, nur weitere Manifestationen der Bürokratisierung als nicht enden wollendem Prozess? Was bedeutet „Bürokratie“ als Vorwurf oder Beschreibung noch, wenn der Topos so ‚universell’ und zeitlos einsetzbar ist? Wie ist der Zusammenhang von Bürokratie und Verwaltung, die häufig als Synonyme verstanden werden, wenn doch offenbar nur gelegentlich Verwaltung im engeren Sinne gemeint ist?
Kurz: Die Konstanz der in „Bürokratie“/ „Bürokratiekritik“ kurzcodierten Sprechweisen müsste an sich erhebliches Unbehagen auslösen.

II. Forschungsinteresse: Auf den Spuren von „Monstern“, „Regelungsfluten“ und „Schreib-Maschinen“

Die Bürokratiediskurse des 18. und 19. Jahrhunderts sind recht gut erfasst: als Teil der Herausbildung der ‚modernen’ Verwaltung und damit des modernen Staates. Die neuere(n) Bürokratiekritik(en) des 20. und des beginnenden 21. Jh.s werden nach meiner Beobachtung weniger wahrgenommen, obwohl die gegenwärtige Erforschung der „Bürokratie“, die sich ja notwendig auch mit Bürokratiekritik oder ihren Anlässen befasst, kaum noch zu überblicken ist.
Ich möchte untersuchen, ob man neuere Stationen von Bürokratiekritik und/ oder Bürokratiebeschreibungen im Sinne markanter Punkte oder Wellen beschreiben kann. In welchem verwaltungshistorischen und rechtlichen Kontext werden Bürokratiediskurse (wieder) geführt? Wie verhalten sie sich zu politischen Debatten um „Bürokratie“? Welches Unbehagen wird eigentlich artikuliert?
Mit den zu sammelnden Befunden kann man weiter arbeiten: Was ergibt ein diachron vergleichender Blick? Trägt der erste Eindruck der Konstanz? Welche Differenzen verdeckt die Ähnlichkeitsannahme? Letztlich ist zu fragen, ob der Begriff noch taugt, was ja immer wieder bezweifelt wird, und wieso er ggf. trotz Untauglichkeit reüssiert.
Um  sich diesen Fragen anzunähern sind die historischen Quellen zu erheben und Systematisierungskriterien zu entwickeln. Neben den Diskursteilnehmern an, den Topoi und Bezügen (Recht, Politik, Verwaltungsreform u.a.) der, den Reaktionsversuchen auf Bürokratiekritik stellt sich die zentrale Frage nach den Inhalten und den Funktionen: Geht es überhaupt um Verwaltung i.e.S., oder nicht doch eher um „den“ Gesetzgeber („Regelungsflut“). Welche Ebenen und Sektoren der Verwaltung sind bevorzugte Felder für „Bürokratiemonster“? Wo geht es um „Bürokratie“ und wo um „Bürokraten“?

Das Jahr am Kolleg eröffnet die Möglichkeit, eine Skizze für eine solche Geschichte zu erarbeiten. Besondere Aufmerksamkeit soll dabei zunächst dem Komplex EU-Bürokratie gewidmet sein, da hier angesichts der Veränderung von Verwaltung das scheinbare Festhalten an überkommenen Bürokratiebeschreibungen besonders auffällig ist. Kommunikation und Verfahren werden zentrale Kategorien oder ‚Achsen’ sein, um das weite Feld zu begrenzen.