Ein neuer „dialogue des juges“ in Europa
Grundrechtspluralismus zwischen Europäischem Gerichtshof, Europäischem Menschenrechtsgerichtshof und nationalen Verfassungsgerichten
In den modernen westlichen politischen Systemen haben sich Höchstgerichte zu Organen entwickelt, die nicht nur Rechtsfälle entscheiden, sondern Einfluss auf das politische Leben und das Institutionengefüge insgesamt gewinnen. Die Bedeutung des U.S. Supreme Court für die verfassungsrechtliche aber auch politische Entwicklung der USA ist seit langem bekannt und vielfach erforscht. Aber auch in Europa haben Oberste Gerichtshöfe und Verfassungsgerichte inzwischen eine kaum geringere Position erlangt. Mit nationalen Verfassungsgerichten, für die hier das Beispiel des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe maßstabgebend ist, mit dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg (EuGH) und mit dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg (EGMR) bestehen drei Höchstgerichte, die je für sich einflussreiche Gerichtshöfe geworden sind: Das BVerfG begründete seinen Einfluss über ein materielles Verfassungsverständnis, das auf die gesamte Rechtsordnung ausstrahlt. Der EuGH etablierte sich als „Motor der Integration“, der den Geltungsvorrang des Europarechts statuierte und die europäischen Rechtsetzungskompetenzen ausdehnte. Der EGMR schließlich definiert nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und einer Reform des Rechtsschutzsystems der EMRK inzwischen den Mindeststandard bei den Menschenrechten und zwingt den nationalen Rechtsordnungen Reformimpulse auf. Haben wir also in Europa einen Grundrechtspluralismus oder stehen wir vor einer einheitlichen Grundrechtstheorie? Wieviel Harmonie im europäischen Grundrechtsschutz gibt es und wieviel sollte es geben?
Die Problematik des europäischen Grundrechtssystems weist zwei Fragenkreise auf: einen materiellen und einen kompetentiellen. Deutsche Juristen tendieren dazu, Rechtsfragen primär materiell-rechtlich zu behandeln und die kompetentiellen Aspekte zu vernachlässigen. Hier zeigt sich eine spezifische Sozialisation deutscher Juristen, die mit einem materiellen Systembegriff ausgebildet werden; auch das Erfolgsmuster der Karlsruher Rechtsprechung (werthaftes Verfassungsverständnis) spiegelt sich hier wieder. In Frankreich spielen, in der Tradition der institutions politiques, kompetentielle und institutionelle Aspekte eine größere Rolle. Demgegenüber stehen Verfahren, Zuständigkeiten und das Organisationsrecht im deutschen Rechtsdenken ganz generell in der zweiten Reihe, während das Materielle überwiegt. Man ahnt schon, dass sich der deutsche Zugang mit dem neuen Grundrechtspluralismus in Europa und den konkurrierenden Gerichtshöfen tendenziell schwer tun wird.
Bei der Alternative einer pluralistischen oder harmoniegetriebenen europäischen Grundrechtslehre dreht es sich nicht nur um ein juristisches Problem der Rechtserkenntnis oder der Zuständigkeiten. Die Frage hat vielmehr auch erhebliches politisches Potenzial und strahlt auf die Leistungsfähigkeit des politischen Systems aus. Denn alle drei Gerichtshöfe entscheiden nicht nur Rechtsfälle, sondern agieren darin zugleich rechtspolitisch; sie sind zu Akteuren der Verfassungs- und Rechtsentwicklung geworden. Ohne die Höchstgerichtsbarkeit zu berücksichtigen, ist eine Darstellung des politischen Prozesses weder auf nationaler noch auf supra- und internationaler Ebene noch möglich. Gerichte institutionalisieren die „counter-majoritarian difficulty“; sie bremsen den politischen Prozess, sie stoßen ihn aber auch zu Reformen an; sie erteilen Rechte an Organe wie an Bürger und juristische Personen, sie üben heute über ihre rechtsprechenden Aufgaben hinaus politische und gesellschaftliche Funktionen aus. Gemeinhin begreift man Verfassungsgerichte (i.w.S.) auch als ein Mittel der checks and balances des politischen Prozesses. Sie kontrollieren die Macht der Legislative und Exekutive. Inzwischen ist die Judikative aber selbst zum Machtträger im westlichen Verfassungsstaat geworden. Es stellt sich daher die Frage, wie Gerichte als Machtträger kontrolliert werden können, um dem Anliegen der gewaltenteilenden Idee der checks and balances gerecht zu werden. Wenn weder die Legislative noch die Exekutive gestärkt werden soll, um eine solche Balancierungsaufgabe zu übernehmen, bleibt nur eine innerhalb der Dritten Gewalt organisierte Form von checks and balances.
Meine These ist, dass mit dem Dreigestirn von nationalen Verfassungsgerichten, EuGH und EGMR inzwischen eine Form der inner-judikativen Gewaltenkontrolle eingeführt ist. Der Einfluss der Höchstgerichte auf den politischen Prozess und ihr Überwinden von demokratischen Mehrheitsentscheidungen ist auch deswegen im politischen System erträglich, weil die Gerichte nicht mit der Kompetenz des letzten Wortes entscheiden, sondern als Ergebnis eines inner-judikativen Abstimmungsprozesses, der auf das Entscheidungsverhalten der anderen Höchstgerichte Rücksicht nimmt, dieses verarbeitet und auch wieder anstößt.
Anders gesagt: Die Macht von Richtern wird erträglich, wenn sie das Ergebnis einer arbeitsteiligen Rechtsprechung ist, also einen inner-judikativen Prozess der checks and balances durchlaufen hat. Wie jedoch ist dieser auszugestalten? Sollte man auf materielle oder kompetentielle Abgrenzungen der Gerichte, ihrer Zuständigkeiten und ihrer Rechtsprechung setzen oder doch die inhaltliche Harmonisierung des europäischen Grundrechtsschutzes als Ziel ausrufen?