Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Das Dilemma der Gleichheit

Die Konstruktion und Repräsentation von ‚Vielfalt‘ und ‚Differenz‘ im euro-atlantischen Raum des 19. und 20. Jahrhunderts

Prof. Dr. Ursula Lehmkuhl

Abstract

Das Forschungsprojekt untersucht die historische Entwicklung des euro-atlantischen Diskurses über religiöse und ethnische ‚Vielfalt‘ und ‚Differenz‘ und die damit verbundenen Formen und Inhalte der Konstruktion von Fremdheit und Alterität. Über die Analyse von Brüchen und Verschiebungen in der Imagination und Repräsentation von ‚Vielfalt‘ und ‚Differenz‘, will das Projekt die diskursiven Strategien der Integration von Fremdheitserfahrung in den gesellschaftlichen Wissensvorrat euro-atlantischer Gesellschaften identifizieren.

Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass es seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert einen verflochtenen euro-atlantischen Diskurs zum Problem von ‚Gleichheit‘ und ‚Vielfalt‘ gibt. Ziel des Projektes ist es, diese verflochtene diskursgeschichtliche Entwicklung und die damit verbundenen Imaginationen und Repräsentationen von ‚Differenz‘ zu rekonstruieren. Ausgehend von der inhärenten Historizität der Konzepte von (politischer und sozio-kultureller) ‚Gleichheit‘ und (religiöser und ethnischer) ‚Vielfalt‘ und der gegenwärtigen Neuverhandlung der Politik des Multikulturalismus in Nordamerika und Europa werden dazu programmatische politisch-philosophische Texte vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart im Hinblick auf die diskursive Repräsentation von ‚Vielfalt‘ (Diversität) und ‚Differenz‘ (Fremdheit, Alterität) analysiert. Ausgewählt wurden Texte, die den euro-atlantischen intellektuellen und wissenschaftlichen Diskurs um ‚Gleichheit‘ und ‚Vielfalt‘ seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert maßgeblich geprägt haben und damit einen zentralen Beitrag zur Konstruktion und Imagination von ‚Differenz‘ im Sinne von Fremdheit und Alterität geleistet haben.

Angesichts der historisch und gegenwärtig zu beobachtenden Fokussierung des Differenzdiskurses auf religiöse Ungleichheit und Vielfalt, konzentriert sich das Projekt insbesondere auf die diskursive Verhandlung von ethnischer und religiöser Differenz und den auf sie gerichteten exkludierenden Praktiken. Des Weiteren interessiert sich das Projekt für historische Brüche und Verschiebungen in der Imagination und Repräsentation von ‚Vielfalt‘ und ‚Differenz‘. Über die Identifikation der Veränderungen in der Semantisierung von ‚Vielfalt‘ und ‚Differenz‘ sollen die sich wandelnden diskursiven Strategien der Integration von Fremdheitserfahrung in den gesellschaftlichen Wissensvorrat euro-atlantischer Gesellschaften erfasst werden. Damit schließt das Projekt unmittelbar an zentrale Frage- und Problemstellungen des Schwerpunktthemas „Religiöse Minderheiten“ sowie der Cluster-Schwerpunkte C und D und des Doktorandenkollegs an.

Historisch werden vier Phasen in den Blick genommen:

  • die klassische Sattelzeit von ca. 1750 bis ca. 1850/70;
  • die Zeit des ‚modernen‘ Nationalismus und der Nationalstaatsbildung, ca. 1850/70–1960;
  • das post-nationale Intervall 1960–1990 und
  • die gegenwärtige Phase transnationaler Ambiguität.

Die intellektuelle und politische Auseinandersetzung mit der Verortung von ‚Differenz‘ im Sinne sozialer, ethnischer, religiöser und rassischer Ungleichheit nahm seit der Mitte des 18. Jahrhunderts sprunghaft zu und erfuhr durch das im Rahmen der Atlantischen Revolutionen für moderne Gesellschaften und politische Systeme erhobene Gleichheitspostulat eine neue Dynamik. Die konzeptuellen Spannungen, die aus der Gleichzeitigkeit von Gleichheitspostulat und Vielfaltserfahrung resultierten, verschärften sich im 19. Jahrhundert dadurch, dass mit der Entstehung moderner Nationalstaaten, das Gleichheitspostulat der Aufklärung durch das Einheitspostulat des Nationalismus eine auf Homogenisierung und Assimilation gerichtete Entwicklung entfaltete. Das dadurch konstituierte Spannungsfeld von ‚Gleichheit/Ungleichheit‘ und ‚Einheit/Vielfalt‘ bewies seine stärkste politisch-gesellschaftliche Wirkung in der Zeit zwischen dem „fin de siècle“ und den 1950er Jahren.

Das Epochenjahr „1968“ und die damit einhergehenden gesellschaftlichen und politischen Umbrüche leiteten ein kurzes post-nationales Intervall ein, während dessen das neo-liberale Konzept des Multikulturalismus Platz griff und postkoloniale Interventionen das nationale Einheitspostulat im Sinne des Homogenisierungs- und Assimilationsparadigmas diskursiv aufbrachen. Das Ende des Kalten Krieges und die gesellschaftliche und politische Wende von 1989 führten jedoch, insbesondere in Europa, zu einer Re-Nationalisierung der politischen Diskussionen über Zu- und Einwanderung und machten im deutschen Falle durch die Konzepte von Leitkultur und Parallelgesellschaft das exkludierende nationalstaatlich geprägte Einheits- und Gleichheitsparadigma wieder hoffähig. Die gegenwärtige Diskussion versucht einen Mittelweg zwischen nationalem Einheitsideal und Respekt vor dem Anderen und Fremden im Sinne des Gleichheitspostulats zu finden. Dabei zeigt die Erfindung der ‚Diversität‘ die Ambivalenzen und Paradoxien auf, die die gegenwärtige Debatte charakterisieren.

Ausgehend von der hier holzschnittartig skizzierten Entwicklung und mit Blick auf die gegenwärtige Neuverhandlung der Politik des Multikulturalismus in Nordamerika und Europa sollen folgende erkenntnisleitende Fragen beantwortet werden:

  1. Wie und in welchem semantischen Feld werden ‚Gleichheit/Ungleichheit‘ und ‚Einheit/Vielfalt‘ in Nordamerika und Europa seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert diskursiv verhandelt?
  2. Welche Formen und Praktiken von Inklusion und Exklusion, von Eigenem und Fremden werden diskutiert?
  3. Auf welche Weise wird innerhalb des Diskurses über ‚Gleichheit/Ungleichheit‘ und ‚Einheit/Vielfalt‘ die Spannung zwischen ‚Vielfalt‘ (Diversität) und ‚Differenz‘ (Alterität) thematisiert?
  4. Über welche Medien werden Konzepte und Deutungen von ‚Vielfalt‘ (Diversität) und ‚Differenz‘ (Alterität) im atlantischen Raum verbreitet?
  5. Welche Modifikationen und Adaptionen und welche konzeptuellen Übersetzungen kennzeichnen die konzeptuelle Reise?
  6. Über welche Medien und deutungsmächtigen Akteure sedimentieren Formen, Strategien und Codes der Repräsentation von ‚Differenz‘ (Alterität) in den gesellschaftlichen Wissensvorrat?
  7. Und schließlich: Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Verhandlung und Repräsentation von ‚Vielfalt‘ (Diversität) und ‚Differenz‘ (Alterität) lassen sich in Europa und Nordamerika beobachten?