Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Attraktionen der Straße

Soziale Wirklichkeit und literarische Imagination um 1930

Gerhard Hommer

Abstract

Die großstädtische Straße hat Hochkonjunktur in der Literatur der Weimarer Republik. In literarischen und feuilletonistischen Texten tritt ein vielgestaltiges Straßenpersonal auf, das die Straße je nach Klasse, Geschlecht, Herkunft oder Alter unterschiedlich wahrnimmt und gebraucht.
Die Dissertation befasst sich mit dem Nebeneinander von bürgerlichen Besuchern und Bewohnerfiguren, denen die Straße Arbeits-, Sozial- oder Lebensraum ist. Verfasst sind die untersuchten Texte fast ausnahmslos von Autoren bürgerlicher Herkunft, die Wahrnehmung und Darstellung der Straße tendiert deshalb zu Ästhetisierung und Repräsentation aus der Distanz. Die Arbeit widmet sich besonders dieser Schwierigkeit, auf Augenhöhe mit der Straße zu erzählen.

Die Dissertation nimmt ihren Ausgang in der Konjunktur urbaner Straßen in der deutschen Literatur des erstens Drittels des 20. Jahrhunderts, mit einer zentralen Verdichtung um 1930. Die Brisanz dieses Anfangsbefundes ergibt sich aus dem Kontrast mit der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, für die ein auffälliges Fehlen der Straße in ihrer großstädtischen Gestalt zu konstatieren ist. Überdeutlich wird der Mangel gerade im komparatistischen Vergleich, deutsche Ästhetiken und Poetiken des 19. Jahrhunderts stehen nicht oder weit weniger in Wechselwirkung mit der sozialen Dynamik der Straße und der politischen Sprengkraft des Straßenlebens.

Gegenüber kanonischen Werken der europäischen Literaturen setzt die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts stärker auf Rückzug, Genrebild und Beschaulichkeit. Dieser Realitätsmangel ist nicht zuletzt dem Realismus deutscher Provenienz geschuldet. Diesem ist bekanntlich eine Programmatik der Reinigung und Abschließung zu eigen, die eine genuin bürgerliche Signatur trägt. Von der Straße her besehen, lassen sich denn auch zentrale bürgerliche Kategorien und Werte des 19. Jahrhunderts wie Familie, Intimität und Innerlichkeit als Abdichtung gegen das Außen beschreiben, auch und gerade gegen die Welt der Straße, gegen Dreck, Lärm, Anonymität, nicht-sesshafte Straßenexistenzen, Sexualität und Kriminalität. Diese Dichotomie ist weit über die realistische Literatur und ihre Ästhetik hinaus wirksam im Sinne einer mentalitätsgeschichtlichen Disposition, die sich maßgeblich in der semantischen Opposition von Straße und Haus bzw. Heim artikuliert. Die literarische Wahrnehmungshaltung gegenüber der städtischen Straße entspannt sich, als sich in den zehner und zwanziger Jahren Berlins Wachstum und Urbanisierung verlangsamen und konsolidieren.

Im Laufe eines schrittweisen Gewöhnungsprozess wird die großstädtische Straße in der deutschen Literatur der Weimarer Republik über ihren allgemeinen Status als paradigmatischer Topos der Moderne und Urbanität hinaus schließlich als ein eigener und differenzierter Gegenstand wahrnehmbar. Vielfach finden sich in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren literarische, feuilletonistische und theoretische Texte, in denen sich Straßen auch nicht auf einen Schauplatz reduzieren lassen, sondern sich für deren spezifische Qualitäten, Eigenheiten und Wirklichkeiten interessieren, denen im Extremfall ein Eigenleben zugesprochen wird. Die Untersuchung ordnet die Fülle an Weimarer Straßenliteratur entsprechend der jeweiligen Perspektive auf die Straße und folgt dabei mit den Texten einer Logik der Annäherung, die sich verschiedentlich beschreiben lässt: als Konkretisierung und Zoom der Straße und des Straßenlebens, als Absenkung des Sehpunkts, als Abstieg bis auf Augenhöhe mit der Straße, als Steigerung der Exponiertheit und Involviertheit.

Die Arbeit unternimmt diese Annäherung in drei Schritten und versucht eine Top-Down-Typologie zu entwickeln, die den literarischen Wahrnehmungsstrukturen der Straße zugrunde liegt und deren sozialräumliche Qualitäten berücksichtigt:

Planen – Besuchen – Bewohnen.

Die idealtypischen Grundmodi dieses dreipoligen Modells meinen unterschiedliche Haltungen gestufter Distanziertheit oder Nähe zur Straße, die deren Wahrnehmung und Darstellung anleiten und mit je eigenen Poetiken und Politiken des Raums, Besetzungsstrategien und Nutzungsformen einhergehen.

Anschaulich gemacht werden können die Unterschiede im Bedeutungsspektrum der Straßenflucht: Der olympische Blick des Planers steht für eine Perspektive offizieller Raumpolitik, die entlang von Straßenfluchten den städtischen als einen Verkehrsraum organisiert; die bürgerliche Ästhetik des Besuchs hat ihr treibendes Moment nicht zuletzt im Begehren, aus der Enge von Wohnung, Familie und Ehe zu flüchten, das in der Straße einen Raum vorübergehender Freiheit findet; genau umgekehrt ist die nichtbürgerliche Straßenflucht gerichtet, die Widrigkeiten der Straße lassen deren Benutzer und Bewohner in Institutionen an ihren Rändern (Asyl, Kneipe, Kinosaal) fliehen.

Die Korrespondenz von sozialem Status mit Wahrnehmungs- und Gebrauchsweisen wiederum gilt es in Verbindung zu bringen mit historischen Entwicklungen der Straße (insbesondere mit Blick auf den Verkehr) in den zwanziger und dreißiger Jahren, während derer die urbane Straßenliteratur in Deutschland ihren Höhepunkt erreicht.